Apokalyptische Toleranz

Aufklärungskasper oder Jammervirtuose? Tankred Dorsts neues Stück „Die Schattenlinie“, nachgespielt in München und Düsseldorf  ■ Von Gerhard Preußer

Gewalt ist hier und nicht nur dort, man hat sie nicht nur fern gesehen, sondern nah erlebt. Endemisch und manifest wird sie nun auch bei uns, nicht nur sporadisch und virtuell. Auf diese Erfahrung reagierten die beiden für die öffentliche Debatte wichtigsten Essays der letzten Jahre, Enzensbergers „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ und Botho Strauß' „Anschwellender Bocksgesang“.

Für Tankred Dorst, kein Avantgardist des Zeitgeistes, aber sein beharrlichster Verfolger im deutschen Gegenwartsdrama, waren beide Analysen der Ausgangspunkt seines neuen Theaterstückes. Ohne Enzensbergers analytische Schärfe und Wut und ohne Strauß' prophetischen Dünkel und Ekel wurde bei Dorst daraus ein ausgewogenes Familiendrama, das noch von der rostigen Maschinerie des bürgerlichen Trauerspiels bewegt wird.

Malthus, die Hauptfigur, ist wie sein historischer Namensgeber Prediger, Philanthrop und Wissenschaftler, ein 68er, der das Unheil der Welt in seiner Akademie für Erwachsenenbildung didaktisch aufbereitet und seine Familie durch penetrante Toleranz zugrunde richtet, ein Dauersülzer und Tugendbold, ein altruistischer Egozentriker, ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Ein Typus also, wie ihn auch Botho Strauß denunziatorisch konstruiert. Doch Dorst hebt nicht ab wie Strauß und definiert sich keine neue Identität als rechter Hohepriester, sondern versucht die spöttische Selbstkarikatur und therapeutische Selbstaufklärung eines linken Liberalen.

Ganz im Sinne von Botho Strauß zeigt Dorst einen Intellektuellen, dessen Fremdenfreundlichkeit sich auch dem „verklemmten deutschen Selbsthaß“ verdankt, ganz im Sinne von Enzensberger zeigt er einen Moralisten, dessen universalistische Moral auf Selbsttäuschung beruht und zur „Barbarisierung“ führt. Dorst sammelt alle Themen ein und bürdet sie seinem Helden auf, eine Last, unter der der ohnehin schwer geprüfte Mann zusammenbrechen muß.

Diese Bürde scheint die Wiener Uraufführung an das Publikum weitergereicht zu haben, zumindest die Kritiker fühlten sich erschlagen von soviel Problemgewicht und empfahlen den nächsten Inszenatoren Leichtigkeit und Tempo. Klaus Emmerich hat sich bei der deutschen Erstaufführung in München daran gehalten. Sein Malthus ist kein tränensackbehängter Trauerkloß, mit dem wir leiden sollten, sondern ein windelweicher Schwadroneur, über den wir lachen können.

Er entdeckt, daß Dorst sogar komische Pointen im Text verborgen hat, und wo er keine findet, erfindet er sie selbst. Malthus wird mit Vollbart, Schlabberhose aus naturbelassener Baumwolle, Strickjacke und gehäkelter bunter Kappe auf dem schütteren Haupt zum Inbegriff des Müsli-Essers ausstaffiert. Felix von Manteuffel spielt ihn mit einer offensiven Sanftheit, die unerträglich und komisch ist. Fast meint man, eine englische Typenkomödie zu sehen.

Noch die Figur des „Schwarzen“, der Rätselfigur bei Dorst, mit der er allzu offensichtlich dem journalistischen Thesenstück Vieldeutigkeit und Tiefe geben will, wird zum Entertainer. Seine Rede auf die Weißen, in der er die eurozentristischen Klischees umdreht und eine von Schwarzen beherrschte Welt nach dem Ende der Herrschaft der Weißen beschreibt, wird dadurch, daß er zwischen jeden Halbsatz afrikanisch klingende Singsang-Phrasen einschiebt, zu einer großen absurden Arie.

Auch die Mordszene, in der Malthus' rechtsradikaler Sohn Jens den Schwarzen umbringt, beginnt als lustiger Mummenschanz, in dem Schwarz und Weiß im Zebrakostüm vereint munter auf die Bühne galoppieren. Der lange Arm der Justiz, mit dem Jens dann ergriffen wird, wird durch die plötzliche Verlängerung des Arms des Richters zum grotesk-komischen Effekt. Jens' vorletzter Monolog, eine großsprecherische Rede voll Menschheitsvernichtungsphantasien, wird hemmungslos verquatscht, durch Wiederholungen in immer höherem Tempo akustisch vernichtet, eine sprechtechnische Zirkusnummer und zugleich die Entlarvung der bombastischen Rhetorik eines hilflosen Rechtsradikalen.

Die forcierte Komik um jeden Preis zeigt, wie das Stück spielbar wird, zeigt aber auch, wie sehr der Regisseur dem Stück mißtraut. Die Inszenierung wahrt eine größere Distanz zur Hauptfigur als der Text. Zu durchsichtig sind die dramaturgischen Machinationen, die Malthus' Bühnenleben bestimmen, als daß man ihn als Charakter ernst nehmen könnte; zu gewichtig sind die Anliegen, die der Autor mit ihm verbindet, als daß man nur über ihn lachen könnte.

Emmerich verbannt die tragische Dimension, die diese Familienfarce leider auch hat, in Prolog und Epilog. Dorst stellt seinem Dramentext einen Prosakommentar voran, der in der Münchner Inszenierung unverständlich zu Beginn verhallt und dann sorgfältig rezitiert am Ende des Stückes, wenn Malthus, gescheitert und vielleicht geläutert auf der Müllkippe wohnend, den Geist des ermordeten Schwarzen begrüßt, eingespielt wird: „Niemand spricht aus, daß in Wahrheit eine immer mehr um sich greifende Lust am Töten, eine Gier, alles, was geschaffen ist, wieder zu zerstören, die Ursache ist, daß Städte in Trümmer fallen...“ Hier sind wir wieder bei dem ratlosen Pathos, dem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Publizistik, bei dem, was Enzensberger den „molekularen Bürgerkrieg“ nennt oder Botho Strauß den „Durst des Angerichteten nach Zerstörung“.

Bewies die Münchner Aufführung, wie man nach der Uraufführung ein schwaches Stück durch entschlossene inszenatorische Hilfsmaßnahmen retten kann, so beweist derweil die dritte in Düsseldorf nur, daß eine Inszenierung so schlecht sein kann, daß man die Schwächen des Stückes darüber vergißt.

Malthus ist wieder der tragische Schwerenöter, ein unsicherer, ewig ernsthafter Krawattenträger, obwohl der Schauspieler, Wolfgang Rüter, bestenfalls ein komisches Talent ist. Dorsts Negerkitsch wird geflissentlich ausgewalzt. Daß Malthus den Zusammenhang von Antirassismus und verdrängter Erotik dadurch demonstrieren darf, daß er Negerküsse vom Finger einer Dame schleckt, ist schon der Gipfel an inszenatorischer Symbolik. Um zu ergründen, warum er auch noch Bretter vor den hinteren Bühnenprospekt nagelt, bedürfte es einer spekulatorischen Kraftanstrengung, zu der die Inszenierung wohl niemanden motivieren kann.

Nur Thomas Loibl als Jens vermittelt, im Gegensatz zu dem psychologisch erklärbaren Faxenmacher in München, durch seine kompromißlose Verweigerung jeglicher Kommunikation etwas von dem Schrecken, den die frei flottierende Gewalt in unserer Gesellschaft hervorruft.

Tankred Dorst (Mitarbeit Ursula Ehler): „Die Schattenlinie“.

Bayerisches Staatsschauspiel (Cuvilliéstheater), Inszenierung: Klaus Emmerich, Bühne: Corinna Crome, mit Felix von Manteuffel, Timo Dierkes, Max Herbrechter.

Düsseldorfer Schauspielhaus (Großes Haus), Inszenierung: Bruno Klimek, Bühne: Jens Kilian, mit Wolfgang Rüter, Ronald M. Mkwanazi, Thomas Loibl.