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Short Stories from AmericaAnzeichen für schönes Wetter

■ 40 Millionen Amerikaner können nicht rechnen – das müssen sie auch nicht

Die letzte Woche war eine gute Woche, denn in den Trümmern des amerikanischen Alltags erkannte ich die Verheißung der Wiederauferstehung des Landes. Es macht nichts, daß Clinton seinen (oder Hillarys) Gesundheitsplan nur wenige Wochen nach der Nachricht vorlegte, 40 Millionen erwachsene Amerikaner könnten weder addieren noch Landkarten lesen, und nur ein Viertel der Erwachsenen könne als „wirklich belesen“ gelten. Das bedeutet doch bloß, daß die meisten Amerikaner den Gesundheitsplan oder gar die besonderen Bestimmungen hinsichtlich ihrer Familien gar nicht lesen könnten, wenn Clintons Gesetzesvorlage den Kongreß übersteht. Wahrscheinlich ist das nicht, denn die Progressiven sind empört über die Zugeständnisse an die Versicherungsfirmen und die Ärzte. Die Konservativen dagegen sind wütend wegen des „monumentalen Angriffs auf den privaten Sektor, auf die individuelle Freiheit“.

Die Freiheit, zu einem Arzt zu gehen, haben derzeit nur jene mit einem guten Job und einer guten Krankenversicherung oder die reich genug sind, um ihren Arzt bar bezahlen zu können. Clintons (oder Hillarys) Plan will diese Freiheit den 40 Millionen Amerikanern verschaffen, die keine Krankenversicherung haben. Konservative können das aber wahrscheinlich nicht verstehen, da sie Amerikaner sind und ihre Lebensmittelrechnung nicht addieren können, ganz zu schweigen von ihren Arztrechnungen, auf denen so viele große Zahlen vorkommen.

Aber das macht nichts, und es macht auch nichts, daß die Rassenbeziehungen einen solchen Tiefpunkt erreicht haben (von einem vorherigen Gipfel konnte man ohnehin nicht reden), daß der Präsident die New Yorker ermahnen mußte, sie sollten bei der bevorstehenden Bürgermeisterwahl zwischen Rudolph Cuiliani und David Dinkins ihre rassischen Vorurteile aus dem Spiel lassen. Cuiliani ist der Weiße, Dinkins der andere. „Es ist nicht einfach offener Rassismus“, sagte Clinton. „Es ist diese tiefverwurzelte Scheu, die wir gegen besseres Wissen beibehalten, statt diese Grenze zu überschreiten.“ Aber in dieser Woche sollte man sich darum gar nicht kümmern, auch nicht um den Zustand einer Regierung, die nicht weiß, was sie in Somalia tut oder warum sie es nicht auch in Bosnien tut. Oder um den Sex-Skandal in der Marine. Im April hieß es in einem Untersuchungsbericht des Verteidigungsministeriums über das Marinetreffen von 1991, bei dem 83 Frauen und sieben Männer sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, höheren Marineoffizieren sei der „Verfall der Verhaltensnormen“ bekannt und sie seien „gegen die zunehmende Unordnung und das unangemessene und promiskuöse Verhalten nicht eingeschritten“. Aber die Marine hat soeben die Hälfte der Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt und steht vor der Entlassung eines Spitzenoffiziers, des Admirals Frank Kelso, eines der wichtigsten Befürworter besserer Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen beim Militär. Als höchster Offizier, so lautet das Argument, sei Kelso letzten Endes verantwortlich für die Vorfälle, und vielleicht ist das ja auch wahr. Aber angesichts des Versagens der Regierung, auch nur einen einzigen der Täter vor Gericht zu bringen, wirkt Kelsos Entlassung auf viele Beobachter als bloßes Alibi für die Unfähigkeit der Marineleute – es sind Amerikaner – zur Addition (83 plus 7 macht... Mehr als alle Finger und Zehen zusammengenommen). Um die Beweise für ein Verfahren zusammenzubekommen, müßte man nicht nur lesen, sondern auch zwischen den Zeilen lesen können.

Aber das soll uns alles nicht stören, genauso wenig wie die reale Arbeitslosigkeit in zweistelliger Höhe. Der amerikanische Unternehmergeist lebt. Zum Beleg für das amerikanische Comeback verweise ich auf Hillary Rodham. Sie arbeitete sechs Monate mit einem Stab von 500 Leuten an der Revision des unzulänglichen Gesundheitssystems der Nation, trat in der letzten Woche fünfmal vor dem Kongreß auf, beantwortete Fragen ohne Hilfe von Assistenten oder Notizen, erntete vom Kongreß zwei stehende Ovationen und wurde deshalb in der New York Times als „Ikone für einen Massenmarkt“ bezeichnet. Sie haben herausgekriegt, wie sie Hillary verkaufen können, und wenn sie der amerikanischen Öffentlichkeit eine gescheite Frau verkaufen können, dann können sie alles. Mit der Wirtschaft, und nicht nur mit ihr, geht es wieder bergauf.

Es gibt noch mehr Anzeichen für schönes Wetter. Aus dem rassischen und ethnischen Schlammringkampf zwischen Dinkins und Cuiliani läßt sich immerhin ein Profit mit Kampagnenbuttons erzielen. Sie werden inzwischen in mehr als sechs Sprachen verkauft, von Spanisch bis Kantonesisch und Rumänisch, und mit den Symbolen aller möglichen Wähler „mit Sonderinteressen“: Iren, Deutsche, Puertoricaner, Koreaner, Schwule, Frauen, Alte und die Westside-Mütter gegen betrunkene Autofahrer. Es wird nicht so ganz klar, ob der Gewinn aus dem „Multikulturalismus“ oder dem Rassenhaß gezogen wird, aber ein Land, das aus Toilettenpapier einen Designerartikel gemacht hat, kann aus beiden Profit ziehen. (Ein politischer Tip: Wenn die deutschen Neonazis ihr Image noch nicht finanziell versilbern können, dann ist von ihnen auch noch nichts zu befürchten.)

Schließlich verweise ich zum Beweis für amerikanischen Einfallsreichtum auf die „Aerosol- Werbung“. Früher nannte man das Graffiti, als die bösen Stadtjungens ihre Wut in die Nacht sprühten. Jetzt werden sie bezahlt, um Werbung zu sprühen – auf Ladenfronten, Geschäftskarten, Fabrikmauern. Die Wirtschaft behauptet, das errege mehr Aufmerksamkeit als traditionelle Anzeigen. Das erinnert mich an den Mann, der einmal behauptete, der Kapitalismus wisse sich alles anzueignen, aber ich weiß nicht mehr, wer das war, weil er im Gegensatz zu Amerika nie gelernt hat, sein Produkt zu vermarkten. Marcia Pally

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