: Antikommunisten wollen Sowjetmacht
■ Bewegung „Demokratisches Rußland“ gründet sich/ Ryschkow soll gehen, die Arbeiter sollen streiken, Gorbatschow ist unausstehlich/ Anti-sozialistische Koalition soll Sowjetregierung ablösen
Moskau (ap/dpa) — Die KPdSU erhält Konkurrenz: Am Wochenende gründete sich offiziell die Bewegung „Demokratisches Rußland“. 2.000 Delegierte waren im Moskauer Kino „Rossija“ zusammengekommen. Die Gründung wurde einstimmig beschlossen. Lew Ponomarew, stellvertretender Vorsitzender des Organisationskomitees, sagte in seiner Eröffnungsansprache, die Bewegung verstehe sich als Alternative zur KPdSU. Sie sei keine politische Partei, sondern eine Sammlungsbewegung, die vor Wahlen einzelne Kandidaten aufstelle und Zeitungen herausgebe.
Offizielle Fahne der Bewegung ist die alte weiß-blau-rote Trikolore Rußlands. Es wird einen Emblem- Wettbewerb geben. Auf dem Kongreß waren neben der Demokratischen Partei Vertreter der Christdemokraten, der Freien Demokraten, der Demokratischen Plattform und anderer antikommunistischer Gruppen versammelt. Ponomarew sagte, es gebe zwei politische Lager in der russischen Sowjetrepublik: Auf der einen Seite stünden die Konservativen in der KPdSU, auf der anderen stehe das Bündnis der Demokraten.
Trotz der Einstimmigkeit gab es Startschwierigkeiten: Eine Debatte über die Frage, ob man sich als Partei organisieren sollte oder nicht, konnte vorerst nicht abgeschlossen werden. Der Gründer der Demokratischen Partei und einer der Motoren des Bündnisses, Nikolai Trawkin, sprach sich dagegen aus, das „Demokratische Rußland“ als Partei zu organisieren. Trawkin setzte sich dafür ein, eine Massenbewegung aus locker zusammengefügten Einzelorganisationen zu bilden. Beobachter in Moskau sagten, Trawkin schrecke vermutlich davor zurück, seine als straff organisiert geltende Partei in eine größere Organisation einzubringen. Auch andere Delegierte, die kleineren Gruppen vorstehen, wollten ihre Unabhängigkeit nicht einbüßen, hieß es in Moskau.
Obwohl die Delegierten ihre Absicht unterstrichen, die Macht in der Sowjetunion mit parlamentarischen Mitteln zu übernehmen, riefen sie zum zivilen Ungehorsam gegen die sowjetische Regierung Ryschkow auf, um deren Rücktritt zu erreichen. In einer Resolution heißt es, der Rücktritt soll durch „politische Streiks, Hungerstreiks, Kundgebungen und Demonstrationen“ erzwungen werden, falls er nicht bis zur Herbsttagung des Obersten Sowjets erfolgt ist.
Nach dem Rücktritt der Sowjetregierung soll eine Koalitionsregierung unter Einschluß von Vertretern der Parlamente der Unionsrepubliken gebildet werden. Oleg Rumjanzew vom Organisationskomitee der Bewegung schloß jedoch eine Koalition mit sozialistischen Kräften, wie sie Gorbatschow vorgeschlagen hatte, aus: „Dazu sind wir nicht bereit, denn der Sozialismus hat das Land ruiniert“. Die Koalition sollte auf „breiter, antisozialistischer Grundlage“ gebildet werden.
Überhaupt erfuhr Gorbatschow heftige Kritik. Jelena Bonner, Witwe von Andrei Sacharow, sagte, der Präsident habe sich zwar mit außerordentlichen Vollmachten ausstatten lassen, scheue aber die außerordentliche Verantwortung, die er eigentlich tragen müsse. Diese Verantwortung habe er an die Republiken delegiert, doch die besäßen keine Vollmachten, sagte sie. Bei einer auf dem Kongreß durchgeführten Umfrage nach dem derzeit populärsten Politiker erhielt Rußlands Parlamentschef Boris Jelzin 89 Punkte, gefolgt vom Bürgermeister von Leningrad Anatoli Sobtschak mit 55 und seinem Moskauer Amtskollegen Gavriil Popov mit 27 Punkten. Gorbatschow landete weit abgeschlagen auf dem siebten Platz — mit lediglich sieben Punkten.
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