Anti-Atomkraft-Zentrale: Der Zellkern des Protests
Anti-Atom-Aktivisten haben sich für zwei Monate in Weißensee eingerichtet. Dort planen sie Proteste zu den laufenden Koalitionsverhandlungen.
Morgens um zehn in Weißensee. Gerade hat sich ein Dutzend Atomkraftgegner um den Frühstückstisch versammelt. Es gibt Vollkornbrot, Zwiebelaufstrich, Croissants und Tee. Einer von ihnen hat sich Birnenstücke ins Müsli geschnippelt. Noch geht es ruhig zu in der ständigen Vertretung der Antiatomkraftbewegung. Die Telefone sind noch stumm, die Notebooks zugeklappt.
Nur am Ausgang wirbeln drei junge Frauen in warmen Jacken: Sie packen Transparente, Nähmaschine und Planen ins Auto. Sie übernehmen die erste Schicht bei der Mahnwache vor der baden-württembergischen Landesvertretung, dem heutigen Verhandlungsort der Koalitionspartner.
Nicht einmal drei Wochen ist es her, dass Atomkraftgegner aus ganz Deutschland sich in dem Kultur- und Bildungszentrum im Nordosten Berlins eingemietet haben. Sie wollen mit Mahnwachen und Protesten Druck machen während der Koalitionsverhandlungen. Denn an den wechselnden Verhandlungsorten der Koalitionäre geht es derzeit um die Wurst: darum, ob und um wie viele Jahre die Laufzeitbegrenzungen für Atomkraftwerke verlängert werden. Oder ob sie, der Albtraum eines jeden Atomkraftgegners, komplett fallen.
Deshalb haben sie Luftmatratzen und Isomatten auf dem Boden eines ehemaligen Krankenhauses ausgebreitet, kistenweise Plakate, Farben und Infomaterial im Flur zwischengelagert und an die Tür ein Schild gehängt: "Ständige Vertretung der Anti-Atom-Bewegung - Außenstelle der Republik freies Wendland". Hier arbeitet, hier schläft, hier wohnt das Herz der Berliner Proteste.
"Heute wird es ein ruhigerer Tag", sagt Jürgen. In Weste und Karohemd sitzt er am Tisch, vor sich eine dampfende Tasse. Ruhig heißt: In der Stadt finden neben der Mahnwache keine weiteren Proteste statt. Stattdessen stehen andere Dinge auf dem Programm: einkaufen, Schlüssel nachmachen, die Aktionen für die nächsten Tage planen. Auch um den Haushalt müssen sich die Aktivisten kümmern. "In den ersten Tagen haben wir hier mindestens fünfmal durchgewischt, bis es einigermaßen sauber war", sagt einer. Die letzte Woche war hart, die Zahl der Aktivisten ist ausgedünnt. Auch weil Heizung und Warmwasser erst seit Kurzem funktionieren.
In den drei Räumen im Erdgeschoss, die die Atomkraftgegner bezogen haben, ist fast alles improvisiert. Kühlschrank und Herdplatten in der Küche stammen vom Sperrmüll, in einer Ecke stehen Notebooks und Drucker in einem Gewirr aus Kabeln. Die Dusche ist nur ein Duschkopf, angeschlossen an einen Wasserhahn. Ein Teil der Lebensmittel wird gespendet von Nachbarn und Unterstützern.
Die Wände sind übersät mit Plakaten, Flipchart-Papier, auf denen geplante Aktionen stehen. Neben dem Stadtplan hängt ein Zettel mit den Terminen der Koalitionsverhandlungen. Die Treffen der Arbeitsgemeinschaften Wirtschaft und Umwelt und die großen Koalitionsrunden sind grün markiert. Hier lohnen Proteste, heißt das.
Unter normalen Bedingungen wären die kaum realisierbar. Denn in Berlin gibt es fast keine Anti-Atomkraft-Bewegung. Durch den Hauptbahnhof rollen keine Castortransporte. Und dass in Wannsee ein Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums steht, wissen nicht einmal alle Anwohner.
Es ist halb elf, als zum ersten Mal ein Telefon klingelt. Jürgen meldet sich tatsächlich mit "Ständige Vertretung". Der 47-Jährige ist ein alter Hase der Anti-Atom-Bewegung. Er hat schon Gleise im Wendland blockiert, gegen die Atommülllager Asse II und Schacht Konrad gekämpft. Jetzt versucht er, nicht zu sehr die Leitung der Ständigen Vertretung zu übernehmen. Schließlich sollen Entscheidungen in der Gruppe getroffen werden. Etwa bei der Vorbereitung einer kleineren Aktion vor der Landesvertretung Baden-Württemberg.
Ein Tag, an dem nicht mehr als eine Mahnwache stattfindet, ist genug, findet Aktivist Matthias. Die Gruppe diskutiert, was noch kurzfristig auf die Beine zu stellen ist. "Etwas Lautes mit Fässern?", kommt ein Vorschlag. "Die könnte man doch auch gleich zum Blockieren nutzen", geht es weiter. Die Idee steht schnell, doch es fehlen Fässer, am besten gelb bemalt, mit dem schwarzen Zeichen für Radioaktivität. Matthias greift zum Telefon, er erinnert sich, dass im Keller einer Umweltorganisation ein Dutzend Fässer stehen müssen. Doch keiner weiß, wo sie sein könnten.
Stattdessen steht der Paketbote vor der Tür: in den Händen fünf gelbe Päckchen von Unterstützern, die Transparente geschickt haben - für die Aktion an diesem Samstag. Der Verhandlungsort, die nordrhein-westfälische Landesvertretung, soll umzingelt werden. Es werden noch drei Lautsprecherwagen gebraucht. "Lass uns doch erst mal einen anfragen", sagt Matthias und klemmt sich wieder ans Telefon.
Auch Material für Banner fehlt noch, nicht Baumwolle, Kunststoff soll es sein. Der ist leichter zu tragen, vor allem bei Regen. "Auch wenn er nicht gerade öko ist." Und auch nicht billig: Ein Banner kostet locker 300 Euro.
Die Telefone klingeln jetzt im Minutentakt. Aktivisten, die gerade nicht in Berlin sind, rufen an, die Mahnwache hat Probleme mit der Demo-Anmeldung, und irgendwann kommt auch eine Nachricht für Matthias: Die Atommüllfässer sind aufgetaucht. Sie stehen in Hamburg, einige auch im Wendland. Sie können abgeholt werden. "Eigentlich kennen sich fast alle Akteure", erklärt er. Das vereinfacht vieles: Material kann unkompliziert ausgeliehen werden, Unterstützer sind schnell zur Hand, und bei der Planung von Aktionen weiß man, wer auch mal etwas für sich behalten kann.
Trotzdem: Die Diskussionen können auch kontrovers sein. Zum Beispiel, wenn es um die Aggressivität geht, mit der die Aktivisten nach außen hin auftreten. "Wir hatten die Idee, im Rahmen einer Aktion mit Tennisbällen in Richtung Merkel zu werfen", erzählt Jürgen, als er auf einem Plakat die Straßenzüge der Umzingelung aufmalt. Tennisbälle sind gelb, eine Anti-Atom-Sonne darauf, und fertig wäre ein schlagkräftiger Protest gewesen. Doch die Mehrheit lehnte die Idee ab. "Allein das Werfen ist schon sehr aggressiv", sagt Jürgen. Vielleicht passiert etwas mit Schaum. Der wäre zumindest weich. Und er müsste nicht geworfen werden.
Transparente per Post
Nachmittags um vier kommt die erste Schicht der Mahnwache zurück in die Ständige Vertretung. Der Akku für die Maschine, mit der sie während der Mahnwache die Transparente zusammennähen, war leer. Sie sind durchgefroren, es gibt Suppe und Tee. Ein paar Helfer packen den Kofferraum des Autos voll, um die Mahnwachenden mit neuem Strom und Nähmaterial zu versorgen. Davon ist genug vorhanden: Der Paketbote liefert täglich Nachschub. Damit soll am Samstag der Häuserblock mit der nordrhein-westfälischen Landesvertretung nicht nur umzingelt, sondern auch gleich eingewickelt werden.
"Wir bleiben so lange wie nötig", stellt Jürgen klar. Gemietet haben sie die Krankenhausräume in Weißensee erst einmal für zwei Monate, knappe drei Wochen sind schon vorbei. Ob auch ein längerfristiger Aufenthalt in Berlin vorstellbar wäre? "Klar kann auch am Ende des Prozesses die Entscheidung stehen, dauerhaft eine Ständige Vertretung einzurichten", meint er. An die Adresse der werdenden Regierung dürfte das durchaus als Drohung gelten.
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