Anti-Atom-Aktionen in Deutschland: "Proteste wie nach Tschernobyl"
Atomkraftgegner machen Druck: Mit Aktionen in mehr als 320 deutschen Städten wollen sie gemeinsam mit Umweltverbänden auf die Atom-Katastrophe in Japan reagieren.
BERLIN taz | Es ist ein schweres Unglück. Und es befördert den Streit über die Atomkraft in Deutschland in ungeahntem Maße. Mit Mahnwachen, Demonstrationen und Aktionen in bislang über 320 deutschen Städten reagieren Umweltgruppen, Einzelaktivisten und Onlineinitiativen bundesweit auf das schwere Atomunglück in Japan.
Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel am Wochenende die deutschen Atomkraftwerke als sicher bezeichnet hatte, fordern atomkritische Initativen in ganz Deutschland am Montag die Bundesregierung auf, die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke umgehend zurückzunehmen und alte Atommeiler abzuschalten.
Bereits am Wochenende waren in Baden-Württemberg rund 60.000 Menschen gegen die Energiepolitik der Bundesregierung auf die Straße gegangen, in vielen Städten kam es zu spontanen Mahnwachen.
Am Montag dann wurde eine neue Dimension der Empörung in Deutschland deutlich. Der Berliner Protestforscher Dieter Rucht sagte der taz: "Diese Proteste sind mit den Reaktionen auf Tschernobyl zu vergleichen. Sehr speziell ist, dass eine solche Dynamik innerhalb von einem Tag entstanden ist." Zwar habe es auch in Hochphase der Friedensbewegung Mitte der 80er Jahre, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 und anlässlich der Volkszählung 1987, ähnlich flächendeckende Mobilisierungen gegeben. Diese seien aber selten in dieser rasanten Geschwindigkeit entstanden.
Auch Jochen Stay, Sprecher der atomkritischen Initiative "ausgestrahlt", auf deren Website eine Übersicht der zahlreichen dezentralen Aktionen veröffentlicht wird, sagte: "Eine Mobilisierung in dieser Geschwindigkeit habe ich noch nie erlebt." Es gebe in Deutschland offenbar ein großes Bedürfnis, auf Japan zu gucken. "Die Menschen sind geschockt und drücken den Kernkrafttechnikern in Japan die Daumen. Aber es ist gefährlich, dass die Bundesregierung nach diesen Vorfällen versucht, die Leute in Deutschland rein symbolisch zu beruhigen."
Manöver wie das der baden-württembergischen Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) seien durchsichtig. "In Baden-Württemberg wollen die Minister der CDU vor der anstehenden Landtagswahl jetzt symbolisch ihren Job retten", sagte Stay. Gönner hatte am Montag nicht ausgeschlossen, in ihrem Bundesland, wenn nötig, auch vor der anstehenden Landtagswahl am 27. März noch Atomkraftwerke abzuschalten. Auch andere Politiker, teils aus Reihen regiererender Koalitionen in den Bundesländern, forderten am Montag, alte Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen.
Diese Forderung wird am Montagnachmittag auch auf die Straßen getragen: Starten sollen die bundesweiten Proteste ab 17 Uhr. Dann soll auch vor dem Bundeskanzleramt in Berlin eine Mahnwache gegen Atomkraft stattfinden. Hierzu haben unter anderem der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sowie der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ihre Teilnahme angekündigt. Neben den Straßenprotesten formiert sich öffentlicher Protest derzeit auch über das Kampagnen-Portal Campact. Das Portal klagt über Server-Probleme, nachdem innerhalb der ersten 24 Stunden ihrer Initiative "Abschalten" bereits rund 60.000 Menschen einen Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnet haben.
"Wir wären schon bei doppelt so vielen Unterstützern. Doch aufgrund des großen Ansturms auf unsere Server konnten wir bislang erst die Hälfte unserer 350.000 Newsletter-Abonentinnen erreichen", sagte Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz am Montagmittag der taz. Die Aktivistenplattform hatte zuvor angekündigt, großformatige Protestanzeigen in bundesweiten Tageszeitungen zu schalten, sobald 100.000 Menschen den Appell an Bundeskanzlerin Merkel unterzeichnet haben. Darin drücken die Unterzeichnenden Fassungslosigkeit und Entsetzen über die Reaktorkatastrophe von Fukushima aus und fordern die Bundeskanzlerin auf, Konsequenzen aus der Katastrophe zu ziehen. Wörtlich heißt es in dem Aufruf: "Machen Sie die Laufzeitverlängerung rückgängig und schalten Sie Atomkraftwerke ab – jetzt und endgültig!"
Neben den Anzeigenplänen kündigt das Kampagnenportal auch Flashmobs und Protestaktionen an all solchen Orten an, an denen die Bundeskanzlerin in den kommenden Tagen in Erscheinung treten will. Mehr zu den geplanten Protesten und eine Übersichtskarte über die Mahnwachen finden Sie auch im taz-Bewegungsportal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen