Anschlag auf Homosexuelle in Tel Aviv: Mitten ins Herz
Nach dem Anschlag auf ein Homosexuellen-Zentrum mit zwei Toten gab es noch Samstagnacht eine spontane Demonstration in Tel Aviv. Ein Augenzeugenbericht.
TEL AVIV taz | Der Trance-Techno aus den Lautsprechern über der Bar war plötzlich verstummt, die Video-Clips auf den zwei Bildschirmen mitten in der Bewegung eingefroren, ehe - völlig ungewohnt an diesem Ort, einem Club in der Allenby Street - die Breaking News des israelischen Fernsehens tatsächlich über alle geradezu hereinbrachen. Bilder, wie man sie seit den Terror-Anschlägen im Zuge der sogenannten Zweiten Intifada nicht mehr gesehen hatte: Die Nacht von Tel Aviv vom Blaulicht der Polizei- und Rettungswagen gefleckt, Uniformierte mit MPs und schusssicheren Westen, die ersten grün-weißen Absperrbänder, dann die Bahren mit blutüberströmten jungen Menschen.
Von einem Mord-Anschlag mit zwei Toten und über zehn Verletzten ist die Rede, der Tatort eine schwul-lesbische Bar in der Nähe des Rothschild-Boulevards. Ein jeder schlussfolgert so das Naheliegende: Hier kann es sich nur um "Evita" handeln, die beliebte Terrassen-Lounge-Bar in der Yafne Street, die nicht nur Community-Gäste anlockt. Hätte man nicht genau dort den Abend beschliessen wollen und war mit Freunden verabredet?
Ruhig, ganz ruhig, schauen die Gäste die Schreckensbilder über ihren Köpfen, greifen dann nach ihren Handys, telefonieren, geben mit bemüht gelassener Stimme die Information durch, dass man selbst an sicherem Ort sei, fragen nach dem Gegenüber - und erstarren dann doch, wenn lediglich die automatische Stimme der Mailbox zu hören ist, welche die schlimmsten Erinnerungen an die Jahre ab Herbst 2000 wachruft: Hay-many shehimantem eyno zamim.
Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Blicke werden gewechselt, aber da ist kein überflüssiges Gerede, kein Kokettieren mit dem erneuten Einbruch von Gewalt in den tagnächtlichen Rhythmus der quirrligen Metropole, keinerlei Sich-wichtig-Tun. Statt dessen verlassen die Meistenden zügig den Club, laufen die von pittoresk verfallenen Bauhaus-Ungetümen und Gebäuden aus der britischen Mandatszeit flankierte Allenby Street hoch, bis zur Ecke Rothschild-Boulevard.
Vor dem kleinen Sushi-Pavillon und den umliegenden Cafes aber sitzen nach wie vor die abendlichen Flaneure, Taxis und Busse fahren ohne Unterlass. Weiter zur Yafne Street, wo auf einmal nun beinahe Erleichterung aufkommt: Keine Polizei- und Krankenwagen, nur das sofort geräumte "Evita".
Junge Leute fallen sich in die Arme, wieder wird telefoniert, werden Eltern, Partner und Freunde beruhigt. Währenddessen ist von einem bewaffneten, inzwischen flüchtigen Mann ist die Rede, von einer bereits im gesamten Viertel anlaufenden Suchaktion von Polizei und Inlandsgeheimdienst Shin Beth. "Siehst du, sie lassen uns nicht allein", sagt unter Tränen eine junge Frau, die gerade von der gegenüberliegenden Seite des idyllischen, mit Bäumen und Bänken bestandenen Rothschid-Boulevards kommt. Dort nämlich hatte sich das Attentat ereignet, in einem unscheinbaren Haus an der Ecke Nahmani- und Ahad Ha' am Street, wo sich ein Hilfsprojekt für jugendliche Homosexuelle befindet.
Erste Gerüchte machen die Runde, doch selbst sie sind eher fragend und moderat, nicht schrill oder besserwisserisch: Könnte es nicht sein, dass ein religiöser Täter in Frage käme, da der Ort für die seit längerer Zeit ohnehin ruhig gestellten palästinensischen Terroristen wohl kaum ein spektakuläres Ziel gewesen sein dürfte?
Nicht unbedingt, gibt ein 24jähriger zu bedenken, der sich in einer Organisation für junge Reliogiöse engagiert, die beides sind - homosexuell und tief gläubig zugleich. Hatte man in jenem Eckhaus mit seinem Jugendprojekt nicht auch jungen arabischstämmigen Israelis geholfen, so dass man ebenfalls vermuten könnte, das vielleicht ihrer wütenden Väter oder Onkel...?
Dutzende Menschen überqueren den Boulevard und sehen an der Kreuzung in der kleinen Seitenstraße bereits die Männer in Kippa, Kaftan und durchsichtigen Handschuhen, die bei Terrorattacken stets zur Stelle sind, um die Körperreste der Ermordeten zu bergen. Auch Ultraorthodoxe mit schwingenden Schläfenlocken kommen angeeilt - das Viertel, das sie früher dominierten, ehe es alternativ-gemischt wurde, mochte von gewissen Konflikten geprägt gewesen sein, jedoch niemals von Gewalt dieser Art.
Werden die Religiösen nun etwa ausgebuht, sucht sich der Volkszorn einen Sündenbock? Nichts weniger als das. Gemeinsam steht man vor den Absperrungen, Zivilisten sprechen mit den Schwerbewaffneten, von irgendwo her sind Helikopter in die noch immer heiße Nachtluft aufgestiegen und weder die zahlreich eingetroffenen Fotografen noch die Kameraleute des israelischen Fernsehens drängeln und fluchen.
Die Leichen, so hört man, seien bereits abtransportiert, die schwerverletzten Jugendlichen in den nächstgelegenen Krankenhäusern in Behandlung.
Inzwischen ist es schon ein Uhr, und die ersten Kerzen werden an der Kreuzung aufgestellt, die ersten Regenbogenfahnen entrollt. Dann erscheint Nitzan Horowitz, der einzige offen homosexuelle Knesset-Parlamentarier, Abgeordneter der linksliberalen Bürgerrechtspartei Meretz. Dass er in seiner kurzen, improvisierten und immer wieder von Stocken unterbrochenen Rede sofort politsches Kapital aus dem Verbrechen schlagen wuerde, könnten wohl nur Böswilige behaupten.
Auch er weist darauf hin, dass Motiv und Identität des flüchtigen Mörders noch unklar seien. Doch: War von Seiten der ultra-religiösen Regierungspartei Schas nicht immer wieder gegen Homosexuelle als "Zerstörer des Judentums" gehetzt worden, hatte man in diesem von der Aufklärung abgeschotteten Milieu nicht ein Klima der verbalen Gewalt geschaffen?
Die Menge ringsherum stimmt zu, ohne sich jedoch in Empörungs-Emphase hineinzusteigern. Viele der Umstehenden erinnern daran, wie in den zunehmend rechtsfreien Räumen der Westbank-Siedlungen nicht nur die arabischen Nachbarn kujoniert, sondern auch rassistisch-sexistische Hetzreden geschwungen werden. "Die Utrarechte mordet wieder" heißt es auf einem in die Kameras gehaltenen Pappschild - eine Anspielung auf die Ermordung Yitzhak Rabins im November 1995.
Hatte der junge Schriftstelller Nir Baram am also doch recht gehabt, als er vor einigen Tagen von der Zerstörung Israels von Innen her sprach? Um ihn zu treffen und über seinen bald auf deutsch erscheinenden Tel Aviv-Roman "Der Wiederträumer" zu sprechen, war man doch eigentlich in die Stadt gekommen. Sogar freundschaftlich gestritten hatte man, die tiefe Skepsis des Zweiunddreißigjährigen gekontert mit unzähligen Verweisen auf das regionsweit einmalig Plurale des demokratischen Israel. Und nun dies.
Doch geichzeitig: Die Stimme eines Rabbis, der nun alle zum Gebet bittet und den Ewigen anruft, der Toten gedenkt und den Wunsch in den Himmel sendet, der Judaismus solle den Friedwilligen gehören und nicht den Predigern des Hasses. Die Mutter eines homosexuellen Sohnes ergreift das Mikrophon und spricht unter Tränen von ihrer Liebe für ihr Kind und dessen Partner und ruft Eltern in ähnlichen Familienverhältnissen dazu auf, offensiv zu handeln anstatt den Jugendlichen Angst zu machen und sie in seelische Krisen zu treiben.
Eine halbe Stunde später formiert sich die Demonstration, spontan und wahrscheinlich auch nicht "polizeilich genehmigt", obwohl auf dem Weg vom Rothschild-Boulevard über die Allenby Street bis hinunter zu einem Park an der King George Street kein einziger der kurzzeitig blockierten Auto- oder Nachtbus-Fahrer wütend hupt. In den Cafés längs der Weges erheben sich schweigend die Menschen, und mehr, immer mehr schliessen sich dem Zug an. Mittlerweile ist es drei Uhr morgens, doch keiner scheint mehr an Party oder Schlafengehen zu denken.
Sind dies also die angeblich verweichlichten Ego-Hedonisten, über welche die extrem religiöse Rechte seit Jahr und Tag Hass und Häme ausgießt? Zum Abschluss singen oder vielmehr summen die Menschen jeden Alters - ja selbst ein paar Familien auf dem späten Heimweg - "Das Leben ist eine schmale Brücke", ein populäres Lied aus den Gründungsjahren des Staates Israel. "Wir haben eine immense Freiheit zu verteidigen", sagt ein junger Mann, der mit seinem Freund gerade in der Armee dient. "Schließlich ist es unser Tel Aviv, unser Israel, für alle."
Die Lichter im Park illuminieren die Regenbogenfahne, das weltweite Symbol der schwul-lesbischen-Community, doch gleich daneben weht blau auf weißem Grund der Davidstern, die Fahne des demokratischen Staates Israel. Trotz alledem und alledem.
Marko Martin, Jahrgang 1970, ist Schriftsteller und Publizist. Demnächst wird im Ölbaum- Verlag das Buch "Tel Aviv - Ein Lebensgefühl" erscheinen, geschrieben von ihm und Henryk M. Broder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich