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Annullierte Wahl in IstanbulBürgermeister gegen Präsident

Die Kommunalwahl in Istanbul wird am 23. Juni wiederholt. Die AKP kann sich keine zweite Schlappe leisten. Wie stehen die Chancen der Opposition?

Anhänger von Ekrem Imamoğlu protestieren in Istanbul gegen die Annullierung der Bürgermeisterwahl Foto: dpa

Wieso wurde die Bürgermeisterwahl in Istanbul annulliert? Weil der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan es so wollte. Sieben der elf Richter, die in der Hohen Wahlkommission sitzen, haben sich dem Staatspräsidenten gebeugt und das Ergebnis ohne gültige juristische Argumente für nichtig erklärt.

Nachdem die Stimmen zunächst nochmals ausgezählt wurden und der knappe Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu bestätigt war, erhob Erdoğan einen letzten Einspruch bei der Wahlkommission – mit der Behauptung, es habe Unregelmäßigkeiten in der Bildung der Wahlräte gegeben. Dabei war die Zusammensetzung der Wahlräte schon lange vor der Wahl bekannt. Und die gleichen Wahllokalvorstände wurden auch bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 eingesetzt. So hat die CHP vor wenigen Tagen ihrerseits die Wiederholung der Wahlen von 2018 beantragt.

In der „neuen Türkei“ von Erdoğan ist Rechtsstaatlichkeit ein Konzept von gestern. Sogar das oberste Wahlgremium des Landes hat er fest im Griff. Mehr als vier Millionen Wählerstimmen für den Oppositionsführer İmamoğlu wurden deshalb für ungültig erklärt. Als İmamoğlus Wähler*innen dagegen protestierten und auf die Straße gingen, kritisierten selbst AKP-Politiker wie der ehemalige Präsident Abdullah Gül und der AKP-Parlamentarier Mustafa Yeneroğlu die Entscheidung der Wahlkommission auf Twitter. Aber vergebens.

Was nun? Dass Erdoğan sich keine zweite Niederlage in Istanbul erlauben kann, ist offensichtlich. Was die Chancen der Opposition bei den Neuwahlen angeht, ist Skepsis deshalb durchaus berechtigt. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Erdoğan sich durch diesen Angriff auf freie Wahlen in eine schwierige Lage gebracht hat. Einen zweiten Sieg İmamoğlus anzufechten und für nichtig zu erklären würde sein Image als Diktator verstärken.

Kann İmamoğlu wieder gewinnen?

So stellt sich die Frage, ob İmamoğlu seinen Sieg in Istanbul unter den gegenwärtigen Bedingungen wiederholen kann. Die Antwort lautet: Ja, er kann. Denn was die politische Währung der Glaubwürdigkeit angeht, hat er jetzt sogar noch bessere Chancen für einen Sieg als der Kandidat der AKP.

Durch seinen positiven Wahlkampf hat er schon beim ersten Antritt erschöpfte und hoffnungslose Oppositionswähler*innen von einem möglichen Sieg überzeugt und sie zu den Urnen mobilisiert. Auch die Aufforderung des verhafteten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş an seine Wähler*innen, bei den Kommunalwahlen die CHP zu unterstützen, hat dazu beigetragen, dass die Oppositionspartei die drei größten und wichtigsten Metropolen des Landes erobern konnte.

So gewann İmamoğlu auch die Wahl von Istanbul mit einer knappen Mehrheit von 13.729 Stimmen. Bei den Neuwahlen könnte die Differenz noch größer ausfallen. Denn vom nationalkonservativen Lager bis hin zur Kommunistischen Partei unterstützen fast alle Oppositionsparteien İmamoğlu. Ihre Parteivertreter haben bereits erklärt, dass sie bei der anstehenden Neuwahl auf eine erneute Kandidatur verzichten wollen. Zählt man die Stimmen der Kleinparteien bei der annullierten Istanbuler Kommunalwahl zusammen, kommt man auf 150.000 Stimmen – so viele Stimmen könnte İmamoğlu bei der anstehenden Neuwahl dazugewinnen.

Als der CHP-Politiker vor knapp vier Monaten seine Kandidatur erklärte, kannten ihn nur die Wähler*innen in seinem Istanbuler Stadtbezirk Beylikdüzü, wo er viele Jahre Parteivorsitzender und später Bezirksbürgermeister war. Auch wenn die regierungstreuen Medien während des Wahlkampfs kaum über den CHP-Kandidaten berichtet hatten, wurde İmamoğlu nach seinem Wahlsieg in Istanbul unerwartet zum Hoffnungsträger für die Opposition. Das lag vor allem an seinem Auftreten in der Wahlnacht: Während die Stimmen noch ausgezählt wurden, wandte sich İmamoğlu jede halbe Stunde mit einer Presseerklärung in den sozialen Medien live an seine Wähler*innen.

Bürgermeister für 19 Tage

Als sich der Istanbuler AKP-Kandidat Binali Yıldırım vorschnell zum Sieger erklärte, trat auch İmamoğlu an die Öffentlichkeit und beanspruchte den Wahlsieg für sich. Als in den darauffolgenden Wochen die Stimmen infolge der Beschwerden der AKP neu ausgezählt wurden, kommunizierte İmamoğlu intensiv über die sozialen Medien. Mit jedem Einspruch und Manipulationsversuch der AKP stiegen seine Sichtbarkeit und Popularität. Erst zwei Wochen nach der Kommunalwahl wurde İmamoğlu die Ernennungsurkunde überreicht. Bis dahin gewann er die Wahl jedoch mit jedem Tag erneut, weil sich das Ergebnis trotz aller Neuauszählungen nicht änderte und sich die Niederlage der AKP ein ums andere Mal bestätigte. In seinen 19 Amtstagen brachte İmamoğlu Transparenz in lokale Entscheidungsprozesse: Zum ersten Mal wurden die Sitzungen und Abstimmungen im Stadtrat in den sozialen Medien live übertragen.

Bei den Neuwahlen am 23. Juni wird Erdoğan wieder alles versuchen, um den Wahlausgang zu manipulieren. Doch İmamoğlus Partei, die CHP und deren Anhänger*innen, sind erfahrene Wahlbeobachter*innen. Am 31. März standen sie bereits an allen Urnen und leiteten die Ergebnisse an İmamoğlus Wahlkampfzentrale weiter. Zwei Teams von CHP-Beauftragten in Wahlräten und freiwillige Wahlbeobachter*innen überprüften die Auszählung und Eintragung der Stimmen an jeder einzelnen Urne, so dass es einen funktionierenden Kontrollmechanismus gab. Als die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı in der Wahlnacht nur Ergebnisse der AKP veröffentlichte und die Wahlkommission plötzlich aufhörte, ihre Zahlen zu übermitteln, hatte İmamoğlus Team eigene Daten zur Hand. Das ermöglichte ihm den sicheren Ton in seiner Erklärung zu einem Wahlsieg.

Die CHP und ihre Freiwilligen sind jetzt bereit, diesen Prozess zu wiederholen. Die Neuwahl findet in den Schulferien statt, wenn zahlreiche Istanbuler*innen die Stadt verlassen. Viele Oppositionelle stornieren nun ihre Flugtickets und Hotelreservierungen. Immer mehr Freiwillige melden sich, um am Wahltag die Urnen zu beobachten. Sollten die Stimmen auch dieses Mal wiederholt ausgezählt werden, werden die Oppositionsanhänger*innen vor den Wahlbüros Wache stehen. Auch darin haben sie Erfahrung: Viele Wahlbeobachter*innen übernachteten tagelang in Turnhallen auf Säcken voll mit Stimmzetteln, bis das Ergebnis vom Hohen Wahlrat nach zwei Wochen anerkannt wurde.

Nachdem die Wahlkommission nun am vergangenen Montag verkündet hatte, dass die Wahlen in Istanbul wiederholt werden sollten, bewahrte İmamoğlu Ruhe. Auf seinem Twitterkanal äußerte er sich live von einem Besuch bei einer Istanbuler Familie, mit der er das Fastenbrechen beging. Dass er sich in dieser politischen Situation in einem solch religiösen Setting äußerte, ist kein Zufall: İmamoğlu gilt als integrative Figur, er bemüht sich, sowohl Konservative als auch Säkulare anzusprechen.

Bei der Ansprache erklärte er in freundlicher Gelassenheit, er würde sich noch am gleichen Abend zu der Entscheidung der Hohen Wahlkommission äußern. Eine Stunde später stand er auf der Bühne in seinem Heimatbezirk Beylikdüzü – der Auftritt wurde live im Netz übertragen, Jacke und Krawatte hatte er ausgezogen, die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Nun wich auch seine Gelassenheit einem kämpferischen Ton: „Wir sind jung, haben Durst auf Demokratie! Dem Willen des Volks kann sich niemand widersetzen. Wir werden nicht aufgeben. Wir werden gewinnen! Alles wird gut!“, rief er seinen Anhänger*innen zu.

In diesem Moment wurde eines klar: Am 23. Juni wird es nicht mehr nur um Kommunalwahlen gehen, sondern um einen Wettkampf zwischen einem Bürgermeisterkandidaten und dem Staatspräsidenten. Am 31. März stellten sich Tausende von Kandidaten zur Wahl. Jetzt wird İmamoğlu alleine gegen Erdoğans Ein-Mann-System antreten.

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