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Anklage gegen Erich Honecker steht

■ Vorwurf: Totschlag in 49 Fällen/ Staatsanwaltschaft erwartet den Angeklagten „mit Ungeduld“

Berlin (dpa/ap/taz) — Die Berliner Staatsanwaltschaft hat den ehemaligen DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker wegen der vorsätzlichen Tötung von 49 Flüchtlingen an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze angeklagt und die Taten als „kaltblütige Verbrechen“ qualifiziert. Nach den Ermittlungen sei es eindeutig Ziel der DDR-Führung gewesen, die Grenze mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Menschenleben unpassierbar zu machen, erklärte Berlins Generalstaatsanwalt Dieter Neumann nach der Zustellung der Anklage an Honecker und fünf führende ehemalige DDR-Regierungsmitglieder.

Die Justiz warte nun „mit Ungeduld“ darauf, daß Honecker, der im Dezember vergangenen Jahres in die chilenische Botschaft in Moskau geflüchtet ist, „dem Verfahren zur Verfügung gestellt wird“. Neumann rechnet noch in diesem Jahr mit einem Prozeßbeginn. Die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach forderte erneut die Rücküberstellung Honeckers.

Im einzelnen legt die Justiz Honecker (79), dem Ex-Stasi-Chef Erich Mielke (84) und dem DDR- Ministerpräsidenten Willi Stoph (77) für die Zeit zwischen 1961 und 1989 vollendeten Totschlag in 49 Fällen sowie die versuchte Tötung von 25 Flüchtlingen zur Last. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt sie, als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR Beschlüsse gefaßt zu haben, die die Tötung der Flüchtlinge zur Folge hatte. Im Fall einer Verurteilung drohen den Angeklagten Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. Mitangeklagt sind weiter der ehemalige Verteidigungsminister Keßler, dessen Stellvertreter Streletz sowie der SED-Bezirkschef Hans Albrecht.

Nach Worten des Generalstaatsanwalts stützt sich die Anklage nicht auf einen konkreten einzelnen Schießbefehl. Aus Einzeldokumenten ergebe sich jedoch das Gesamtbild, wonach es „Wille des Nationalen Verteidigungsrates“ gewesen sei, Fluchten durch Schüsse und Minendetonationen zu verhindern. Insbesondere Honecker habe dies immer wieder klargestellt. Nach langen Überlegungen habe die Staatsanwaltschaft sich entschlossen, Honecker und seine Mitangeklagten als Täter und nicht nur als Anstifter anzuklagen, betonte Neumann.

Das diplomatische Tauziehen um Honecker geht inzwischen weiter. Der chilenische Sonderbotschafter James Holger erklärte in Santiago, daß der Abschied Honeckers von der Botschaft „nicht unmittelbar“ bevorstehe. Chiles Position sei „auf juristischer Ebene sehr klar und solide“. Chile hatte sich in der Vergangenheit immer dafür ausgesprochen, daß Honecker von Rußland die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, bei Verlassen der Botschaft in Moskau gegen seine Abschiebung nach Deutschland zu klagen.

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