Anklägerin in leerem Raum

von THOMAS GERLACH

„Also, du schreibst jetzt ein Schild: Sahnebonbon ein Pfennig!“ Elfriede Kautz schiebt die Perücke nach vorn, kurz über den Augen kommt das künstliche Haar wie ein Visier zu stehen. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich meine Mutter ‚Elfriede‘ genannt hat, für die war ich bloß ‚Also‘.“ Plötzlich baut sich die 91-Jährige in ihrem Sessel auf und kichert gekünstelt: „Hi, hi, hi, hi!“ Dann ruhiger: „Die hat ja immer so hysterisch gelacht.“ Wieder äfft sie ihre Mutter nach: „Sahne-Bonnn-Bonnn!“ Jede Silbe ein Hammerschlag. „Was soll denn das? Bonnn-Bonnn!?“ Wieder eine Pause. Mit der Verachtung der Wissenden schleudert sie es ihrer Mutter ins Gesicht: „Das ist doch französisch und wird anders ausgesprochen!“ Die Mutter in ihr schweigt. Zufrieden lehnt sich die Tochter zurück: Stille, Genugtuung, Sieg. „Nee, nee, ich hatte keine gute Kindheit“, sagt Elfriede Kautz.

Erst Rote Hilfe, dann KPD

Als Halbwüchsige wurde sie magersüchtig. „Spinne!“, rief ihr die Mutter nach, die selbst über zwei Zentner wog. Elfriede Kautz sitzt im Sessel, die Mutter steht im Raum, irgendwo als unsichtbare Angeklagte. Augen und Ohren sind stumpf geworden, Verstand und Zunge blieben scharf.

So eine fällt weit vom Stamm, weg von der fetten Mutter, weg vom monarchistischen Vater, weg von der Schule mit ihren Weltkriegsgedichten, weg von der Bäckerei, den Broten, dem Kuchen, den Sahnebonbons. Einzig das große blitzende Schaufenster gefiel auch Elfriede: „Bäckerei u. Conditorei Fritz Baumgarten“ stand darauf. Später flogen Steine hinein, geworfen von Kommunisten. Der Bäckermeister hatte auf die „verdammten roten Bonzen“ gewettert. Fort, nur fort! So eine sucht das Weite, so eine wird selbst eine Rote, so eine wird Kommunistin.

„Wollen Sie einen Kaffee?“ Schon ist Elfriede Kautz aufgestanden, lässt den weiß lackierten Stock zurück, setzt gemessen Schritt für Schritt, vorsichtig, doch nicht unsicher, geht in die Küche, summt irgendetwas, setzt einen Topf auf, schüttet Pulver in die Tassen, gießt Wasser darüber, hantiert mit Keksen. Die Flamme brennt weiter. Hat sie das übersehen? „Das Gas brennt noch!“ – „Ich weiß!“, kontert sie. Keine Pause, keine Verlegenheit, kein Zweifel, die Alte ist hellwach.

Zwei Schluck Kaffee, ein Stück Keks, das Aschenputtel von damals sitzt als Herrin in der Stube und lässt die Toten auferstehen, antreten und wieder versinken. „Als ich zu den Kommunisten kam, war auf einmal auch die Magersucht weg.“ Die ältere Schwester Grete hatte sie mitgenommen. „Wir haben was anderes gesucht, als wir von zu Hause kannten.“ Sie fanden junge Männer, die hatten andere Lieder und andere Gedanken, die stillten den Hunger der Mädchen, nicht nur mit Vorträgen über die Künstlerkolonie Worpswede und den Maler Heinrich Vogeler. Elfriede wurde Mitglied der Roten Hilfe und 1929 der KPD. Sie hat Ernst Thälmann gehört am Hohen Ufer in Hannover. Beide Töchter waren in der KPD, beide brachten sie Genossen mit nach Hause, die Schwiegersöhne wurden. Kommunistische Flitterwochen. „Wir hatten zwei Landräte, einen Staatssekretär, einen Minister! Wir wollten in die Regierung!“, sagt Elfriede Kautz. Fromme Wünsche, die Diktatur des Proletariats blieb aus. Elf Tage nach Hitlers Machtübernahme war die Schwester verhaftet, der Schwager erschlagen. Thälmann kam wieder zurück nach Hannover. Als Häftling. Elfriede Kautz wird einsilbig. Zwölf Jahre Schweigen, zwölf Jahre Ducken. Da gibt’s auch heute nicht viel zu sagen. Nur: „Wir waren äußerst vorsichtig.“ Beim „äußerst“ dehnt sie ihre Stimme wie einen Faden. Die Kommunistin hatte sich eingesponnen. Ein Kokon aus Alltag: zwei Kinder geboren, der Mann muss an die Front, sie selbst geht als Näherin ins Eichsfeld. Eine Emigration ins Unpolitische.

Zwei Schluck Kaffee und ein Stück Keks, Elfriede Kautz ist im Sessel versunken. Hitler hat sie ohne Gefängnis überstanden. Adenauer nicht. Das ist kein Witz, Oberstaatsanwalt Karlheinz Ottersbach verstand keinen Spaß, am Landgericht Lüneburg nicht und bis 45 am deutschen Sondergericht in Kattowitz auch nicht. Dort hatte er so manches Todesurteil beantragt und so manches durchgesetzt. Elfriede Kautz reckt drei Finger: „Ich hab drei Kriege mitgemacht: Den ersten, den zweiten und den Kalten Krieg.“ Im ersten war sie zu klein, im zweiten zu still, im dritten, im Kalten, wird sie laut, zieht in den Kampf. „Ein Jahr Gefängnis und fünf Jahre Ehrverlust, weil wir für erholungsbedürftige Kinder schöne Ferienwochen ermöglichten!“ steht auf einem Foto. Elfriede Kautz mit Hornbrille, Handtasche, Hut, eingehakt bei ihrem Mann, vor sich das Transparent wie ein Schild, der Tag ihres Haftantritts. „Weil sie den Kindern half, wurde sie eingesperrt!“ titeln DDR-Zeitungen. Der Klassenkampf hatte für ein paar Monate eine Heilige, eine Jeanne d’Arc aus Hannover.

Ab 1954 schickte die Zentrale Arbeitsgemeinschaft „Frohe Ferien für alle Kinder“ Mädchen und Jungen aus Westdeutschland in DDR-Ferienlager. Für Niedersachsen organisierte Elfriede Kautz gemeinsam mit ihrer Freundin Gertrud Schröter die Ferien. Allein aus diesem Bundesland nahmen jährlich rund 1.000 Kinder an den dreiwöchigen Reisen in die DDR teil. Sieben Jahre lang Sommerferien im Kalten Krieg als er am heißesten war: zwischen dem 17. Juni 1953, KPD-Verbot 1956 und dem Mauerbau 1961. Die DDR bezahlte die Ferien und die Deutsche Bundesbahn fuhr die Kinder mit Sonderzügen in die Ostzone. Mit glücklichen Westkindern im Harz und an der Ostsee hat die SED im Propagandakrieg manchen Punkt gemacht. Walter Ulbricht wollte den Westen überholen. Da kamen ihm Kinder, die im Sommer freiwillig in die DDR reisten, gerade recht. Im achten Jahr war Schluss. Der Feriendienst wird wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot und als „kommunistische Tarnorganisation“ aufgelöst.

In Hannover werden Elfriede Kautz und Gertrud Schröter verhaftet, Hausdurchsuchung, 502 Seiten Anklageschrift, Prozess in Lüneburg, Kinderverschickung als „staatsgefährdender Nachrichtendienst“ und „landesverräterische Beziehung“. Die beiden Frauen hatten den DDR-Behörden die Personalien der Kinder mitgeteilt. Der Briefmarkentausch zwischen Ost- und Westkindern wurde als „politische Beeinflussung“ gewertet. Auch das Rezitieren von Wilhelm-Busch-Versen auf einem Kinderkarneval erwähnt die Staatanwaltschaft in der Anklage.

Die schönen Ferien sind aus, der Kalte Krieg geht weiter: „Geburtstag hinter Bonns Kerkermauern!“ schreiben DDR-Zeitungen, „Frohe Ferien für frohe Kinder bringen Seuche und Krankheit“ kontert die Bild-Zeitung. „Eines Tages standen vier Kisten auf dem Richtertisch, über 60.000 Briefe und Karten!“ Elfriede Kautz schiebt ihre Perücke zurecht. „Juri Gagarin hat uns geschrieben und dieser Pastor da, in Afrika, und eine belgische Prinzessin. Und ein ganz berühmter Rennfahrer. Lauter Persönlichkeiten.“

Es war eine schöne Arbeit

Sie klopft mit den Fingerspitzen auf die Lehnen, links Gagarin, rechts die Prinzessin, Albert Schweitzer hinter ihr, die Kautz berühmt und mittendrin. „Es war eine schöne Arbeit. Und wir hatten kein Krankenfall und nicht einen Unfall!“ Mit spitzer Lippe spricht sie weiter: „Wir müssen anerkennen, dass die Angeklagten Gutes für die Kinder taten. Das werden wir bedenken.“ Elfriede Kautz hat nun auch den Richter aus dem Orkus in die Stube geholt und flötet noch einmal ihr Schlusswort, ein Gedicht: „Wir müssen Sorge tragen um ein kleines Kind, das leis sein grünes Kleid besingt ...“ Sie schließt die Augen. „... und wir müssen Sorge tragen, dass ein Schüler es schon an die Tafel schreibt ...“ Und jetzt schaut sie auf den Richter und ruft: „... wir müssen sorgen, dass uns Frieden bleibt!“ – „Das Schlusswort kommt erschwerend hinzu!“, bellt er zurück. Die Kautz lacht, der Richter ist schon wieder versunken.

Elfriede Kautz hat alle überlebt, Freund und Feind und auch die DDR. Nach ihrem Ende hat das neue Deutschland die SED-Unrechtsurteile aufgehoben, die Urteile der politischen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg blieben wie alle anderen bundesdeutschen Urteile bestehen. Vor einem Jahr starb ihre Freundin Gertrud Schröter, kurz zuvor erhielt sie das niedersächsische Verdienstkreuz, weil sie jahrelang Besucher durch das KZ Bergen-Belsen geführt hatte. Rehabilitiert wurde sie nicht. Elfriede Kautz ist in den Flur gegangen, sie baut sich vor dem Spiegel auf: „Wir wollen doch zeigen, dass es damals im Westen das gleiche Unrecht gegeben hat!“ Auf der Ablage liegen drei Hüte. Den rosafarbenen greift sie, stülpt ihn auf den Kopf. „Ja, und dafür muss man noch ein bisschen Feuer haben.“ Sie zupft an der Perücke, summt ein bisschen. „Hut muss sein!“, ermuntert sie ihr Spiegelbild. Kess wirft sie die Kappe auf den Haufen zurück. Kein Zweifel, der Klassenkampf hat auch ein bisschen Spaß gemacht.