Angstmache vor sozialen Verwerfungen: Wir schaffen das!

Trotz Inflation, Wohlstandverlust und asozialem Lindner: Es gibt keinen Grund für ausschließlich nach staatlichen Hilfen schreienden Alarmismus.

Kunden stehen an einer Ausgabestelle der Tafel Frankfurt.

Allein diejenigen, die die Modernisierungslasten nicht tragen können, sollten unterstützt werden. Foto: Sebastian Gollnow / picture alliance

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 12.07.22 | Jammern auf hohem Niveau und Angstmache vor sozialer Unrast werden benutzt, um die Transformation in die fossilfreie Gesellschaft zu delegitimieren und aufzuhalten. „Die Situation ist dramatisch und der soziale Frieden in Deutschland ist massiv in Gefahr“ so teilte der Bundesverband der Deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) am 7. Juli in Berlin mit. Der GdW erwartet im Herbst Kostensteigerungen für Energie und Wärme für alle Mieter im vierstelligen Bereich. Staatliche Hilfen seien „unausweichlich“.

Der Verteilungsforscher Markus Grabka hat gerade im Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (23/2022) seine Auswertung des Sozio-ökomischen Panels (SOEP) für den Zeitraum von 1995 bis 2019 veröffentlicht. Dieses Panel ist das für die Regierungsstellen und die Öffentlichkeit der Bundesrepublik wichtigste und kompetenteste sozialökonomische Datenwerk. Danach sind in diesem Zeitraum „die realen Bruttomonatslöhne aller Beschäftigten um mehr als zehn Prozent, die der Vollzeitbeschäftigten um 22 Prozent gestiegen (…) Die realen verfügbaren Nettoeinkommen der Haushalte sind (…) in der Mitte um 25 Prozent gestiegen“. Die Bundesrepublik ist so stabil, dass die Bürger auch Zumutungen und Einschränkungen mittragen können, wenn die Politik sie ihnen abverlangt. Und das müssen sie.

Wohlstandsverluste sind unausweichlich

Die Republik lebt im Wandel ins nachfossile Zeitalter. Der Wandel wird belastet vom lange noch nicht beendeten Ukraine-Krieg und der realen Gefahr, sich auch nach Westen ausweitender System-Kriege. Industrie und Gesellschaft müssen mit Energieknappheit, steigenden Energiekosten, sich nur langsam in neuen globalen Bezügen sortierenden Lieferketten, einem demographisch bedingten Arbeitskräftemangel und der Umstellung auf eine postfossile Produktion zurechtkommen. Die Corona-Pandemie wird weiter hohe Kosten und gesellschaftliche Anstrengungen erfordern. Die hohe Inflation und in der Folge Lohnkämpfe können im nächsten Jahr eine Rezession mit höheren Arbeitslosenzahlen auslösen.

Dieser Wandel und die ihn strukturierenden Großkrisen können ohne Wohlstandverluste nicht bewältigt werden. Das „Weiter so“ und das Zuschütten der Krisen mit immer mehr Beruhigungssubventionen ist nicht zukunftsfähig. Mit einer solchen Politik wird nur das Missverständnis bekräftigt, dass sich nichts ändern muss und sich alles bald wieder beruhigen wird. Wirklichkeitsverweigerung aber vermeidet keine Schmerzen. Sie ist Selbstbetrug. Sie erhöht nur den Preis des Wandels. Noch nie in der Zivilisationsgeschichte hat es historische Umbrüche gegeben, die ohne dramatische Veränderungen in allen gesellschaftlichen Sphären vollzogen wurden. Niemals ist es dabei menschenfreundlich und schon gar nicht gerecht zugegangen. Oft folgten auf hellere wieder finstere Zeiten.

Ein Modernisierungskurs unvermeidbarer Zumutungen

Diesmal könnte das anders ausgehen. Es gibt heute keinen Grund für einen sich selbst aufputschenden, ideenlos ausschließlich nach staatlichen Hilfen schreienden Alarmismus, wie den des Wohnungs- und Immobilienverbandes GdW und vieler anderer Lobbyisten. Die Studie des DIW zeigt, dass am Ausgangspunkt der großen Disruption die soziale Basis in der Republik sehr stabil ist. Auf dieser Grundlage des mehrheitlich sehr guten Lebens in der Republik, sicher befestigter sozialer Systeme, einer wandlungsbereiten Wirtschaft, breit akzeptierter demokratischer Strukturen können die politischen Eliten auch einen schmerzhaften Modernisierungskurs einschlagen. Einen Modernisierungskurs unvermeidbarer Zumutungen, der sich dennoch auf Mehrheiten stützen kann.

Das am vergangenen Freitag von Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Die Grünen) vorgelegte und im Bundestag beschlossene Energiewende-Gesetz-Paket führt die Republik rechtlich verbindlich auf den Weg in die zu 90 Prozent postfossile Energiewelt des Jahres 2035. Alle Regierungs- und Verwaltungsebenen können jetzt ihre Arbeit auf dieses Ziel ausrichten.

Sie können auch dafür sorgen, dass die Lasten dieses Umbaus bis 2035 so verteilt werden, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht schwächen, sondern sogar stärken. Eine Energiepauschale von 300 Euro für alle Erwerbstätigen, der Tankrabatt, das dreimonatige 9-Euro-Ticket, ein Gaspreisdeckel, die Dämpfung der Steuerprogression oder auch Tariflohnsteigerungen zum Inflationsausgleich: All diese Einmalzahlungen, wie sie der SPD-Bundeskanzler vorschlägt, ändern an den Belastungen nichts, die die Gesellschaft künftig aushalten muss. Auch nicht, wenn sie mit Steuer- und Beitragsfreiheiten noch aufgepeppt werden. Mit solchen Maßnahmen werden nur die öffentlichen Mittel, die für die Umbau-Investitionen gebraucht werden, für kurzfristig entlastenden Konsum zum Fenster rausgeworfen.

Sie beruhigen nicht. Sie befeuern künftige Protestbewegungen, weil sie unerfüllbare Nachforderungen auslösen. Sie beschädigen das Vertrauen in die Führungskraft der politischen Eliten. Sie verschaffen demokratiefeindlichen, populistischen Bewegungen Zulauf.

Befristete Entlastungen für untere Einkommensschichten

Es hilft nichts: Die Mitte der Gesellschaft wird mit weniger vom Gewohnten, höheren Belastungen und einem tiefen Strukturwandel des ganzen öffentlichen und privaten Lebens den Weg aus der fossilen Wohlstandfalle finden und bezahlen müssen. Diese Lasten wird die mehrheitsfähige Mitte auch tragen, wenn sie plausibel und transparent erklärt werden.

Allein diejenigen, die die Modernisierungslasten nicht tragen können, sollten staatlich und zeitlich begrenzt bis 2035 unterstützt werden. Ein einkommensabhängiger zusätzlicher Kinderbonus, eine zeitlich begrenzte Anhebung der Hartz-IV-Sätze und der Grundrenten könnten solche Entlastungen sein. Dazu könnte auch die Erhöhung des Wohngeldes gehören, wenn zugleich ein verbindlicher Mietpreisdeckel, ebenfalls zeitlich begrenzt bis 2035, festgeschrieben würde.

Lindners Kampfansage an den postfossilen Umstieg

Asoziale Vorschläge dagegen, wie der von Finanzminister Christian Lindner (FDP), die Zuschüsse für den sozialen Arbeitsmarkt von Langzeitarbeitslosen 2023 von 4,8 auf 4,2 Milliarden Euro zu kürzen und in den folgenden Jahren weiter abzuschmelzen, sind eine offene Kampfansage an den postfossilen Umstieg. Würde sein Vorschlag umgesetzt, dann würden tausende Unvermittelbare ihre sinnstiftende Einbindung ins soziale Leben über Arbeit verlieren. Zugleich würde vielen, mittlerweile unverzichtbaren sozialen Dienstleistungen die Basis entzogen, etwa den Mobilitätsdiensten in der Altenpflege.

FDP-Chef Lindner demonstriert mit seinem Vorschlag, dass er von einem breit getragenen solidarischen, gesetzlich und staatlich gesteuerten Modell des Umsteigens bis 2035 nichts hält. Er setzt auf sich angeblich selbst regelnde Markt-Mechanismen. Ein staatlich und gesellschaftlich gesteuerter Umstieg gilt ihm als Zwangsbeglückung, als Freiheitsberaubung. Eine solidarische Verteilung der Lasten dieses Umstiegs und sozialer Frieden interessieren ihn offenbar nicht. Nichtsdestotrotz sind die Chancen groß, den Umstieg ins nachfossile Zeitalter bis 2035 politisch gesteuert hinzubekommen.

Wenn Lindner auf seinem Kurs besteht, dann eben auch ohne seine FDP. Und wenn es sein muss, auch ohne die Ampel.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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