: Angst von dem Zerfall Afghanistans
„Paschtunistan“ als Gefahr für den staatlichen Zusammenhalt Pakistans/ Islam als einigendes Band ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly
Die Ereignisse der letzten Tage in Kabul haben die Gefahr einer ethnischen Zersplitterung Afghanistans erhöht. Für Pakistan wäre dies der Zusammenbruch seiner langjährigen Politik gegenüber dem Nachbarstaat, die darauf abzielte, in Kabul eine starke islamische Regierung unter sunnitischer Führung installieren zu helfen. Sie sollte Gewähr dafür bieten, eine Solidarisierung der Paschtunen jenseits und diesseits der Grenze zu verhindern, die für die Weiterexistenz dieses multi-ethnischen Landes das Ende bedeuten würde.
Ringen um gemeinsame Linie mit Mudschaheddin
Mehr als zehn Stunden hintereinander diskutierte der pakistanische Premierminister Nawaz Scharif vor einer Woche mit den afghanischen Mudschaheddin-Gruppen im Exil, um sie auf eine gemeinsame Linie untereinander und mit den Kommandanten an der Front zu bringen. Er hatte alle sonstigen Verpflichtungen abgesagt und war nach Peschawar geeilt, um die chronisch zerstrittenen Widerstandskämpfer dazu zu bringen, die historische Chance einer möglichen Einigung nicht zu verpassen. Am Ende mußte Scharif jedoch einmal mehr zur Kenntnis nehmen, daß die großen Opfer, die Pakistan für den afghanischen Widerstand während dreizehn Jahren gebracht hatte, bei deren Nutznießern nur wenig gelten, wenn es um die kompromißlose Durchsetzung politischer Ziele und persönlichen Ehrgeizes geht. Gulbuddin Hekmatyar, der radikale Führer der Hizb Islami, ließ sich beim historischen Treffen durch die dritte Garnitur seiner Partei vertreten. Und diese verhinderte am Schluß die Erarbeitung eines Kompromisses, der es erlaubt hätte, für die Übernahme der Herrschaft in Kabul jene Formel anzuwenden, die in zahlreichen Provinzstädten eine friedliche Übernahme erlaubt hat.
Paradoxerweise war Hekmatyar lange Zeit jener Führer, auf den die „Inter Services Intelligence“ (ISI), der militärische Geheimdienst, jahrelang alle seine Karten gesetzt hatte. Der ISI bestimmte bis letztes Jahr die Afghanistan-Politik Pakistans und baute mit Hekmatyar einen Führer auf, der mit US-amerikanischem Geld und Waffen überschüttet wurde. Er war nach Auffassung des ISI „der Politiker unter den Kriegern, und der Krieger unter den Politikern“. Seine Staatsideologie für Afghanistan — ein strenges islamisches Regime — sollte Gewähr dafür bieten, daß nicht mehr ethnische Partikularismen, sondern die überbrückende Ideologie des Islam die zukünftigen Beziehungen zwischen beiden Ländern bestimmen würden. Die Angst vor einem Aufbrechen der ethnischen Gegensätze als Gefahr für die staatliche Einheit ist seit jeher die wichtigste Triebfeder der pakistanischen Innenpolitik gewesen und erklärt die Flucht in den Islam als dem einzigen einigenden Band dieser Gesellschaft.
Es ist derselbe Hekmatyar, der nun mit seinem ehrgeizigen Ziel der Installierung einer von sunnitischen Paschtunen beherrschten Staatsmacht die Gefahr einer Zersplitterung Afghanistans nach ethnischen Demarkierungen riskiert — mit möglicherweise verheerenden Konsequenzen für Pakistan. Die „Durand-Linie“, die Afghanistan von Pakistan trennt, verläuft mitten durch das Stammesgebiet der Paschtunen. Die Idee eines unabhängigen „Paschtunistan“ zwischen Afghanistan und Pakistan bildet seit der Zeit der indischen Unabhängigkeitsbewegung den politischen Sammelpunkt für die verschiedene Paschtu- sprechenden Stämme beidseits der Grenze.
Abfall des einst gehätschelten Hekmatyar
Pakistans großmütige Politik gegenüber den afghanischen Flüchtlingen gehorchte nicht nur humanitären und US-amerikanischen strategischen Interessen. Sie sollte auch die Paschtunen vom guten Willen des Nachbarlandes überzeugen und eine zukünftige freie afghanische Regierung dazu bringen, die Durand-Linie endlich als internationale Grenze anzuerkennen und damit das Gespenst des paschtunischen Separatismus endgültig zu bannen. Das jahrelange Zusammenleben von paschtunischen Flüchtlingen und ihren pakistanischen „Brüdern“ hat aber das ethnische Zusammengehörigkeitsgefühl eher gestärkt. Und nun droht das Verhalten Hekmatyars — des vermeintlichen Garanten eines überethnischen, islamischen Afghanistan — dieses noch zu zementieren. Die Etablierung eines nach ethnischen Trennlinien aufgebrochenen Landes, das wie Jugoslawien bald in seine Teile zerfallen könnte, würde schnell in den Ruf nach einer Vereinigung der paschtunischen Stämme diesseits und jenseits der Grenze in ein gemeinsames „Paschtunistan“ münden.
Ironischerweise war es gerade der frühere Chef des ISI, General Hamid Gul, der kürzlich in einem Interview davor warnte, daß die Aufteilung Afghanistans die „höchste Gefahr für den Zusammenhalt Pakistans“ bedeuten würde. Eine ethnische Absonderung der afghanischen Paschtunen würde die fragile Politik in der paschtunisch-beherrschten „North West Frontier Provinces“ (NWFP) sofort zum Siedepunkt bringen. Khan Wali Khan, der prominenteste Politiker der Provinz und Sohn des paschtunischen Freiheitskämpfers Khan Abdul Gaffar Khan, hat geschworen, daß die Paschtunen die Durand-Linie niemals als Grenze akzeptieren werden. Die Komplexität der politischen Herausforderung für Premierminister Nawaz Scharif läßt sich ermessen, wenn man weiß, daß Wali Khans „National Awami Party“ selber ein Mitglied der regierenden IJI-Koalition ist... Sie macht auch einsichtig, warum Premierminister Scharif am letzten Wochenende bis zuletzt versuchte, die verschiedene Gruppen auf eine gemeinsame Linie mit Ahmed Schah Massuds Dschmiat Islami zu bringen. Aber missionarischer Ehrgeiz bewog Hekmatyar, zu seinen Kämpfern vor den Toren Kabuls zu ziehen, statt sich in Peschawar von seinen pakistanischen Freunden einbinden zu lassen. Die Regierung in Islamabad, die während dreizehn Jahren den Wind der islamischen Einheit zu säen versuchte, befürchtet nun, den Sturm der ethnischen Zersplitterung zu ernten.
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