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Andrej Sacharow ist frei

■ Hausarrest gegen Jelena Bonner und Andrej Sacharow in Gorki aufgehoben / Das Ehepaar darf nach Moskau zurück / Der Atomphysiker wird wieder in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen

Berlin (ap/afp/taz) - Nach fast siebenjähriger Verbannung in der für Ausländer gesperrten Stadt Gorki dürfen der sowjetische Oppositionelle Andrej Sacharow und seine Frau Jelena Bonner nach Moskau zurückkehren. Der Friedensnobelpreisträger von 1975, Menschenrechtler und „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ darf gleichzeitig seine Tätigkeit an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften wieder aufnehmen. Das gab der Stellvertretende sowjetische Außenminister Wladimir Petrowski am Freitag offiziell auf einer Pressekonferenz in der sowjetischen Hauptstadt Moskau bekannt. Parteichef Gorbatschow soll die Entscheidung zugunsten der Verbannten persönlich getroffen haben. Sacharow, der schon 1968 in seinen „Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ die Demokratisierung der Sowjetunion gefordert hatte, ist einer der profiliertesten Wissenschaftler der UdSSR. Das heute 65jährige „Wunderkind“ der sowjetischen Physik warnte aber schon Ende der fünfziger Jahre vor einem forcierten Ausbau der Atomindustrie. Vielleicht ist diese Position auch eine Konsequenz seiner eigenen Geschichte, denn Sacharow hat doch entscheidend zum Bau der sowjetischen Wasserstoffbombe beigetragen. Der in Köln im Exil lebende russische Germanist und Schriftsteller Lew Kopelew erklärte in seiner ersten Reaktion auf die Nachricht über die Freilassung des Ehepaars, dies sei ein Grund zur Freude, doch dürfe man nicht das Schicksal vieler unbekannter und weniger prominenter Gefangenen in der UdSSR übersehen. Er erinnerte daran, daß in den letzten Monaten mehrere Menschenrechtler im Lager gestorben seien, darunter der Schriftsteller Anatoli Korjagin, der Lyriker Wassil Stus, der Historiker Olexa Tychy und der Journalist Jurij Litwin. In einem Appell der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ wird auf das Schicksal des seit 1966 inhaftierten baschkirischen Dichters Nizametdin Achemetov hingewiesen, dessen Gesundheitszustand lebensbedrohend sein soll. Namentlich bekannt sind über 800 politische Gefangene in der UdSSR, im Ganzen sollen nach Schätzungen westlicher Menschenrechtsorganisationen noch an die 10.000 Menschen aus Gründen der religiösen, ethnischen oder politischen Motiven in den Gefängnissen sein. Fortsetzung Seite 6 Kommentar Seite 4 Moskau MOSKAU! WIE FREI DAS KLINGT, WIE DAS JUBELT UND SINGT! WIEN, BERLIN UND BUDAPEST - WEISSE HOCKEN IM WARMEN NEST. DOCH MOSKAU - DAS TÖNT TROTZIG SCHON, FEST WIE ZEMENT, HART WIE BETON MOSKAU GLEICH MUT! MOSKAU GLEICH TAT! MOSKAU UND SEIN PROLETARIAT! MOSKAU, STADT DER ROTEN TÜRME, HERZ DER KLASSE, STÜRME, STÜRME! KURT HUHN, 1922 Sacharow, der mit 16 Jahren in Fachzeitschriften veröffentlichte und mit 22 Jahren mitten im II. Weltkrieg zum Professor aufstieg, setzte sich schon früh mit solchen technologischen Entwicklungen auseinander, die ohne Rücksicht auf die Menschen rein machtpolitischen Zwecken dienen. Als jüngstes Mitglied der Akademie der Wissenschaften gefeiert und mit den höchsten Orden des Landes ausgezeichnet, geriet Sacharow in Widerspruch zur politischen Führung, als er von Ni kita Chruschtschow, dem damaligen Parteichef, die Aussetzung einer Atomtestreihe forderte. Chruschtschows Antwort: Wissenschaftler sollten sich nicht in die Politik einmischen. Gerade diesem Rat ist Sacharow nicht gefolgt. Nach seinem Protest gegen den Einmarsch der Warschauer–Pakt– Truppen in der CSSR 1968 verlor er mehrere staatliche Posten. Sachararow antwortete darauf mit erhöhtem Engagement für die „Unterdrückten und Beleidigten“. Er begann, für politische Häftlinge einzutreten, für die durch Stalin aus ihrer Heimat vertriebenen Krimtataren zu werben, für die Juden und auch die deut sche Minderheit, die nicht aus der Sowjetunion ausreisen durften, die Stimme zu erheben. Als Sacharow auch noch für freie Gewerkschaften und für unbequeme Schriftsteller eintrat, schritt die politische Führung gegen ihr ehemals geliebtes Kind ein. Die Staatsanwaltschaft und die Leitung der Akademie der Wissenschaften luden ihn wiederholt vor. Der Druck verstärkte sich, als Jelena Bonner und Sacharow 1971 heirateten und damit begannen, für westliche Korrespondenten Pressekonferenzen zu geben. Tätliche Angriffe, Morddrohungen und Schmähbriefe häuften sich.Als er 1975 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, sich in Menschenrechtsfragen auf die Schlußakte von Helsinki berief und 1979 gegen den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan protestierte, wurde er zusammen mit Jelena Bonner in die für Ausländer gesperrte Industriestadt Gorki verbannt. Aufsehen erregten die Hungerstreiks des Wissenschaftlers, dem es trotz der Abschirmung durch den Geheimdienst gelang, Informationen überrr seine Aktionen in den Westen zu übermitteln. Durch seine Hungerstreiks konnte Sacharow Ende 1985 die Ausreise für Jelena Bonner erzwingen, die wegen ihrer schweren Herz– und Augenleiden im Westen behandelt werden wollte.

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