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Andrej Lukanow versucht es wieder

■ Bulgariens Sozialisten setzen auf All-Parteien-Koalition

Sofia(ap/dpa) - Bulgariens Staatspräsident Schelju Scheljew hat am Donnerstag, zwei Monate nach den ersten freien Wahlen seit der Zwischenkriegszeit, den bisherigen Ministerpräsidenten Andrej Lukanow erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Lukanow, Wirtschaftsfachmann und Führungsmitglied der bei den Wahlen siegreichen Sozialistischen Partei (der Wende-Name der alten kommunistischen Staats-Partei) erklärte, die neue Regierung solle „alle im Parlament vertretenen Kräfte zufriedenstellen“. Mit dieser Formel wiederholt Lukanow die Aufforderung der Sozialisten an das oppositionelle Bündnis „Union demokratischer Kräfte“ (UDK), an die Bauernpartei und die Vertretung der türkischstämmigen Minderheit, an einer All-Parteien-Koalition teilzunehmen. Lukanow, selbst Anhänger eines schrittweisen Übergangs zu Marktwirtschaft und Privatisierung, sieht keinen anderen Weg, einen gesellschaftlichen Konsens über die Opfer zu erzielen, die die Bevölkerung zu tragen hat. Bulgarien ist im Westen hoch verschuldet und kann, wenn die Zahlungsbilanz ausgeglichen werden soll, keine neuen Güter aus dem Westen importieren. Der illegale Warenexport in andere osteuropäische Länder hat das sowieso schon magere Angebot weiter verknappt, so daß mit generellen Lebensmittelrationierungen gerechnet werden muß. Auch eine Energiekrise zeichnet sich ab, nachdem die Sowjetunion mit ihren Rohöllieferungen in Rückstand geraten ist. Der Wirtschaftsexperte der oppositionellen UDK, Ivan Kostow hat Lukanow aufgefordert, das Wirtschaftsprogramm der UDK zu übernehmen, das auf eine beschleunigte Einführung der Marktwirtschaft hinausläuft. Die UDK hat jetzt eine Regierung vorgeschlagen, die „überparteilich“ ist und sich auf „kompetente Persönlichkeiten und Experten“ stützen soll.

Um die nach der Brandschatzung der sozialistischen Parteizentrale in Sofia angeheizte Atmosphäre weiter zu entspannen, ist der amtierende Innenminister Stojan Stojanow zurückgetreten. Er war nach der Randale vom letzten Sonntag, die je nach politischem Standort als Provokation des stalinistischen Flügels der bulgarischen Sozialisten oder als Werk nationalistisch-faschistischer Kräfte gebrandmarkt worden war, dafür kritisiert worden, daß die Polizei zu spät gegen die Minderheit gewalttätiger Demonstranten vorgegangen sei. Der Präsident Scheljew hingegen soll bereits eine halbe Stunde nach Ausbruch des Brandes einen Einsatz der Polizeikräfte angeordnet haben. Scheljew ist nach wie vor gegen eine All-Parteien-Regierung. Er sagte, er werde Lukanow im Falle eines Scheiterns eine zweite Chance geben, dann sei die UDK an der Reihe. Die Sozialisten versuchten in den letzten Tagen, Scheljew die Verantwortung für die Untätigkeit der Sicherheitskräfte anzulasten.

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