: Andere Gesetze
■ Im Wettbewerb: Markus Imhoof, „Der Berg“
Wenn ein Regisseur sagt, am Berg interessiere ihn „der Abgrund, der die Abgründe des Menschen sichtbar macht“, muß man sich schon fürchten — vor einem schlechten Film. Aber Markus Imhoof ist nicht Hans Neuenfels, und obwohl das Drehbuch nach einer Erzählung (und mit Hilfe) des Theaterautors Thomas Hürlimann geschrieben wurde, ist Der Berg nicht verfilmtes Theater, sondern souverän erzählendes Kino.
Die Geschichte spielt auf dem Gipfel des Säntis, wo 1921, kurz vor Einbruch des Winters, die Stelle des Wetterbeobachters frei wird. Bedingung der Kommission ist, daß der Bewerber verheiratet sei. Diese Bedingung erfüllt „der Manser“, indem er die Wirtshausbedienung heiratet, die von ihm schwanger ist (was wiederum beide verschweigen).
In einer Muli-und-die-Hühner Slapstick-Aktion ersteigen das Paar den Berg, wobei die Filmemacher als location den nicht ganz so gefährlichen Pilatus (bei Luzern) vorgezogen haben. Verblüffend, wie von Lena (Susanne Lothar) die Verbitterung der dörflichen Gefangenschaft abfällt. Den jung Vermählten folgt unter Einsatz seines Lebens ein Österreicher namens Kreuzpointner, der Anspruch auf den Posten erhebt. Kreuzpointner (Peter Simonischek) ist ein k.u.k.-Offizier, dem nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nichts geblieben ist als ein Set von Überlebensregeln, die sich auf dem Berg als nützlich erweisen — zunächst.
Mit der Ankunft des Dritten setzt eine sofortige Errosion der Ehe ein, die in der dicht gepackten Handlung zu jähen Umbrüchen, Ausbrüchen und Listen führt. Es gelingt dem Paar nicht, sich gegen den Eindringling zu verbünden; gerade hat Manser (Mathias Gnädiger) seiner Frau erklärt, daß auf dem Berg „andere Gesetze“ gelten, als das Gesetz der symbolischen Ordnung mit der Ankunft Kreuzpointners in die kleine Welt einer vom kalten Wind umfauchten Hütte einbricht. Es gelingt dem Offizier — jetzt, wo ihn niemand mehr zurückweisen kann, denn der Winter hat begonnen — Manser den Phallus abzunehmen. Dann wechseln die gegenseitigen Rettungs- und Mordversuche in überraschender Folge. Nach dem Tod Kreuzpointners folgt ein melodramatischer Schluß — verschenkt, schade.
Dieser Film ist seltsam entrückt. Er bietet Identifikationen an, die nur noch mit Mühe herzustellen sind. Zwischen den Eheleuten und zwischen den Männern geht es um die Ehre. Selbst die Tatsache, daß die Vorräte für zwei bemessen sind, führt in keinem Moment zur Diplomatie. Kreuzpointners verbitterte These, daß „eine Frau über der Schneegrenze nichts zu suchen hat“, ist schon kurz nach seiner Ankunft implizit widerlegt. Aber niemand lernt daraus. An Lena kann man allerdings erkennen, daß die Verständigung auf Überlebensminima das Eingeständnis von Lust, die Verwerfung überkommener Ehrbegriffe voraussetzt. Das läßt sie opportunistisch erscheinen — sie wird den nehmen, der überlebt — und doch liegt in dieser Figur (Susanne Lothar: mit allen Wassern gewaschen) der Schlüssel für die intime Basis jetziger westlicher Demokratien. Auch Männer haben gelernt, über das Machbare zu reden.
Es ist schon sehr geschickt von Hürlimann, dem funktionierenden Schweizer Kompromiß der Beständigkeit mit dem versprengten k.u.K.-Offizier den Zerrspiegel vorzuhalten. Der Riß, der durch Europa geht, ist nicht die Schweizer Grenze, sondern der Bruch mit den Werten der Vergangenheit.
Daß der Modellschweizer — immerhin der Europa-Wetterwart — ein Trottel ist, verwundert nicht. Es gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen der Schweizer, sich über Schweizer Grundwerte lustig zu machen. Die Dame des Schweizer Stands im Cine Center, der kommerziellen Abteilung des Festivals, steht Imhoof/Hürlimann in nichts nach. Sie meint, ich könne, wenn's nach ihr ginge, alle Berge haben. Ulf Erdmann Ziegler
Der Berg, Farbe, 103 Minuten. Regie: Markus Imhoof; mit Susanne Lothar, Mathias Gnädiger, Peter Simonischek
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