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Anarchie der Moral

Seit Afghanistan ist das moderne Völkerrecht tot, das den Angriffskrieg verbot. Es kann auch nicht wiederbelebt werden – es ist an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert

Menschenrechte schützen und auf Angriffskriege verzichten – das passt nicht zusammen

Das Völkerrecht war der Versuch, die Staaten daran zu hindern, sich gegenseitig in Kriegen zu zerfleischen, ohne dass es eine Zentralgewalt gab, die das durchsetzen konnte. So unvollkommen es auch war, so bot es der Welt doch eine gewisse Struktur. Seit dem 11. September gibt es diese Struktur nicht mehr. Und sie lässt sich auch nicht wiederherstellen.

Das so genannte moderne Völkerrecht, das zuletzt galt, wurde 1919 mit dem Völkerbund begründet. Sein Kern war das Verbot des Angriffskriegs. Nur der Verteidigungskrieg war erlaubt. Die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten war untersagt. Durch den Kellogg-Pakt verstärkt, hatte sich diese Ordnung in der UN-Charta fortgesetzt.

Dieses Völkerrecht ist nicht nur infolge des 11. September und der amerikanischen Hybris zusammengebrochen, sondern infolge eigener Widersprüche: Sein moralisches Element – das Bekenntnis zu der universalen Geltung der Menschenrechte – verträgt sich nicht mit dem Prinzip der Nichteinmischung. Es fordert zum Angriffskrieg auf. Anderseits verträgt sich die Diskriminierung von Staaten, die einen Angriffskrieg führen, nicht mit der Wertneutralität, die in der Idee der Souveränität und der Gleichheit der Staaten angelegt ist.

Die moderne Ordnung wurde schon 1999 verletzt, als die Nato zur Wahrung der Menschenrechte Belgrad bombardierte und sich anschließend zur Out-of-Area-Strategie bekannte. Damals gab es noch Protest, im Westen wenig, im Rest der Welt viel. Insofern brach das Völkerrecht (das ja mangels einer Weltgewalt nur eine geistige Ordnung ist) erst wirklich zusammen, als die Völker der Erde dem amerikanischen „War Against Terror“ zustimmten. Darin lag das stillschweigende Agreement, das Völkerrecht außer Kraft zu setzen. Und tatsächlich wird nach diesem Recht nicht mehr gefragt. Der Sturm der Ereignisse hat es einfach weggeweht.

Wie groß der Schaden ist, zeigt sich daran, dass nicht nur das moderne Völkerrecht weggeräumt ist. Auch die kriegsverhütenden Elemente früherer Ordnungen sind zerstört.

Der älteste Kriegshemmer ist das Asylrecht. Kulturübergreifend heilig gehalten, regelt es das Verhältnis zwischen dem Staat, der einen Verfolgten beherbergt, und dem Staat, der ihn verfolgt. Es gibt dem Zufluchtsstaat das Recht, hinter dem Verfolgten die Grenzen zu schließen, ohne dass der Verfolgerstaat darin einen Kriegsgrund sehen darf.

Nach dem 11. September ist das Stichwort „Asyl“ überhaupt nicht gefallen. Hätte man die Tat, derentwegen Bin Laden verfolgt wird, als Verbrechen behandelt, so hätte man kampflos hinnehmen müssen, dass Bin Ladens Auslieferung verweigert wurde. Doch das quantitative und symbolische Ausmaß seiner Tat sprengte diese Grenzen, und durch die Zustimmung der Völker wurde das Asylrecht einfach zur Seite geschoben.

Der nächste Versuch, den Krieg einzugrenzen, war die Idee des christlichen Mittelalters, dass nur der gerechte Krieg (das bellum iustum) zulässig ist – der Krieg, der aus gerechtem Grund in rechter Absicht geführt wird. Solange das Abendland den Papst als eine gemeinsame moralische Autorität anerkannte, konnte diese Idee halbwegs funktionieren. Sie wurde nach der Reformation aber gefährlich. Im Dreißigjährigen Krieg, in dem beide Seiten die Moral auf ihrer Seite wähnten, hatte die Idee des gerechten Krieges eine schreckliche letzte Feier.

Danach, im Westfälischen Frieden, wurde sie mangels Eignung abgeschafft. Es wurde das „klassische“ Völkerrecht aufgebaut, das den Staaten zwar noch nicht, wie die moderne Ordnung, das Recht zum Angriffskrieg, wohl aber das Recht zum moralisch gerechtfertigten Krieg nahm. Diese neue moralische Indifferenz wirkte segensreich: Sie verhinderte Eskalationen. Sie erlaubte unbeteiligten Staaten, sich mit Anstand neutral zu halten; und sie verhalf zu stabilen Friedensschlüssen, weil der Sieger den Besiegten nicht mehr abstrafen durfte.

Der gegenwärtige „War Against Terror“ aber ist wieder moralisch hoch aufgeladen. Ohne Übertreibung konnte von einem Kreuzzug die Rede sein. Das Gute kämpft wieder gegen das Böse. Insofern ist es ein Rückfall in die mittelalterliche Ordnung, ist das bellum iustum rehabiliert. Indifferenz gilt als unanständig. Neutralität ist unangebracht, Gefolgschaft angesagt. Bestrafung ist nicht nur erlaubt, sondern ausdrückliches Ziel dieses Krieges.

Was übrig bleibt, ist also ausgerechnet die Idee des gerechten Krieges, die sich als so kriegstreibend erwiesen hatte, dass ihre Abschaffung ein Fortschritt des Völkerrechts war. Aber: Kann man – so wie Konrad Liessmann es in der taz vom 22. 12. tat – die Rückkehr in die wertneutrale klassische Ordnung propagieren? Kann man die Moral, die eine Weltmoral geworden ist, wieder abschaffen? Kann man die Menschenrechte wieder abschaffen? Kann man das Bedürfnis nach der Bestrafung von Massenmördern wieder abschaffen? Die Moralisierung der Gewalt ist ein Fortschritt in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ und nicht rückgängig zu machen.

Das moderne Völkerrecht wurde schon 1999 verletzt, als die Nato Belgrad bombardierte

Wer beklagt, dass im Krieg gegen den Terror wieder das Gute gegen das Böse zu kämpfen behauptet und die Wertneutralität der klassischen Ordnung verloren gegangen ist, hat nicht im Auge, dass dieser Verlust schon das moderne Völkerrecht betrifft und die Klage darüber so alt ist wie dieses Recht. Sie wurde schon in den Zwanzigerjahren von Carl Schmitt erhoben, der sich damit gegen den „Genfer Bund“ richtete. Die durch den Völkerbund in Genf eingeführte Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg war ja tatsächlich moralisch und ging mit der „Kriegsschuldfrage“ einher – mit der Bestrafung Deutschlands durch den Versailler Vertrag. Tatsächlich haben die dadurch bewirkten Ressentiments den Zweiten Weltkrieg begünstigt, so dass die damalige Kritik ihre Berechtigung bekam.

Natürlich konnte Carl Schmitt nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht billigen, dass Adolf Hitlers Genossen unter moralischen Auspizien abgestraft wurden, und er wandte sich (im „Nomos der Erde“) dagegen, dass die Vereinten Nationen mit ihrem Menschenrechtsbezug den moralisch-weltanschaulichen Anteil weiterführten. Er wollte an die Stelle der Kriegsächtung den „gehegten“ – den kleinen, aber feinen – Krieg setzen.

Wie wollen sich die heutigen Gegner der moralischen Sichtweise von dieser Kritik abgrenzen? Die moralische Aufladung des modernen Völkerrechts ist keine Entgleisung, sondern notwendige Begleiterscheinung der Menschheitsentwicklung. Man kann angesichts der Atombombe nicht zu der sportlichen Kriegsauffassung des klassischen Völkerrechts zurückkehren. Nicht die Aufladung ist das Problem, sondern dass der Moralordnung eine Weltordnung fehlt, die eine universale Exekutive besitzt – weltstaatliche Instanzen, die die nicht revidierbare Ethisierung der Weltgesellschaft organisatorisch auffangen können. SIBYLLE TÖNNIES

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