Anarchie ab zwölf

■ Jugendtheater so gar nicht a la carte: Das Moks zeigt „Sacco und Vanzetti“ in einem Update

„Sacco und Vanzetti“ – ist ein alter Anarchieklassiker. In der achten Hauptschulklasse aus Marßel wird zur Zeit dessen Alltagsversion „türkische gegen osteuropäische Jugendliche“ gespielt. Sagt der Lehrer. Seine 14-, 15-, 16-jährigen gehen „sonst lieber in die Disco zum Abreagieren, Techno“. Diesmal zur Lehrstunde ins Moks-Theater? Der Titel „Sacco und Vanzetti oder Zuviel Freiheit geht nicht gut“ mutet wahrlich ein bißchen pädagogisch an.

So ein Theater für die Jugend braucht Drive. Hat es. „Sacco und Vanzetti“, das Italodrama aus dem frühen 20. Jahrhundert, liefert dem von Norberto Presta neukonzipierten Stück den Kern, und ist dann doch nur eine Geschichte in der Geschichte: Buntes Kirmestreiben ist angesagt. Das Häufchen Publikum an diesem Schulausflugsvormittag findet sich unvermittelt zwischen drei Schaubuden und einer Bühne wieder, und weiß erstmal gar nicht, wohin stehen und wohin schauen. Der kleine, zerschlissene Familienzirkus Esperanza beginnt seine Show. Und in dieser erzählt Roberta (Eva Wilde), die „Frau aus der Zukunft“, eine Geschichte aus der Vergangenheit, die Geschichte von „Sacco und Vanzetti“. Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird nun fleißig hin- und hergezappt.

In den Schaufenstern der Kirmesbuden erscheinen vergilbte Dias: die Siegessäule, Einwandererfamilien, Zeitungsartikel. „Ist schon lang her, in Amerika-a“, singt der Zirkuschor eine Art Politpop (Musik: Erich Radke). Sacco und Vanzetti kamen aus Italien ins Land der Freiheit, ein Schuhmacher, ein Fischhändler. „Aber sie waren Anarchisten“, weiß Roberta.

Das soll Unglück bringen, belegt schon das Schicksal der Auswanderer Sacco und Vanzetti, die unschuldig des Mordes bezichtigt und 1927 hingerichtet wurden. Dieses Unglück schleicht sich wie ein roter Faden auch in diesen Zirkus da auf der Bühne, denn als der kitzelnde Kirmesklamauk zu Ende ist, ist dann das ganze Elend der armseligen Artisten zu erfahren. Die Jugendlichen sitzen inzwischen auf der Zuschauertribüne – kommt nach dem Stehimbiß nun Theater a la carte?

Schnelle Dialogwechsel folgen. Etwas Jazz, zwischendurch ein E-Gitarren-Solo begleiten diese zweite Geschichte: Das Dilemma der gefrusteten Zirkusfamilie, die (widerwillig) einen gastarbeitenden Clown beschäftigt, deren Tochter Philippa gegen das ausbeuterische Gehabe der Eltern rebelliert und sie beklaut. Bald ist dieses Theater eine Collage aus flitzenden Szenefragmenten, schafft es aber, sich heftig schwankend auf dem Seil zu halten.

Alle Rollen werden gut bedient: Ernst (Jens Brettschneider), der Chef, darf sich tölpelhaft von seiner Frau Anita (Angela Metzler) zur Intrige hetzen lassen. Tochter Philippa (Tanya Häringer) bricht aus, haut ab. Clown Nico ist klassischerweise als der Ausländer der Loser, das schwarze Schaf, ein Brechtscher Knecht Matti (Stefan Drücke). An ihm persifliert Regisseur Norberto Presta auch das Jahrmarktsspiel: Auf dem selbstgebastelten elektrischen Stuhl (Bühnenbild: Steve Lambert, Presta) gibt es in einer Showeinlage für Nico einen Stromstoß für jeden Grammatikfehler – Orwell läßt grüßen. Auch durch Roberta in ihrem grauen Flanellfliegeranzug, die Frau aus der Zukunft, aus dem Reagenzglas 3D-516, die „Sacco und Vanzetti“, „dieses Politische“ in den Zirkus eingebracht hat. Chef Ernst und Ehefrau Anita töten mit Nico und Roberta das Bedrohende

Diese Moritat hat viel jugendliches Tempo, in der Tat. Und sie ist gerade mal nicht zu effekthaschend inszeniert. „Sacco und Vanzetti“ ist die letzte Produktion des Moks-Theaters in dieser Spielzeit. Ab Herbst übernimmt Martin Leßmann - heimischer Schauspieler, Regisseur und Puppenspieler - die Kinder- und Jugendabteilung des Bremer Theaters, dann mit einem komplett neuen, fünfköpfigen Ensemble. Der neue Leiter hat vor, langfristig das Schau-Spiel noch weiter aufzubrechen hin zum Mit-Spiel, zur Animation, zum Raumtheater in seinem eigentlichen Sinn.

Stumm verlassen die Jugendlichen aus Marßel diesmal den Theaterraum. Mal sehen, wie sie morgen drüber reden. Sagt der Lehrer.

Silvia Plahl

Nächste Vorstellungen 9.- 11.5., 10.30 Uhr, 12. und 13.5., 19.30 Uhr im Moks im Brauhaus, Theater am Goetheplatz