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Analyst über Tunesiens Präsident„Seine Zeit ist begrenzt“

Tunesiens Präsident regiert weiter per Dekret. Skepsis sei angebracht, doch Einmischung von außen wäre das Falsche, sagt Beobachter Fadil Aliriza.

Kais Saied Foto: Florian Gaerntner/photothek/imago
Jannis Hagmann
Interview von Jannis Hagmann

taz: Herr Aliriza, vor einem Monat hat Tunesiens Präsident Kais Saied den Regierungschef abgesetzt, die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben und das Parlament suspendiert, eigentlich nur für 30 Tage. Während er behauptet, die Demokratie zu retten, sprechen Kritiker von einem Putsch. Nun hat er die Maßnahmen per Dekret verlängert. Wie geht es weiter?

Fadil Aliriza: Es ist unklar, was seine Pläne sind. Vonseiten des Präsidentenbüros gibt es nur wenig Kommunikation. Was wir wissen, kommt größtenteils von dessen Facebook-Seite. Aber es würde mich wundern, wenn es jetzt nicht ein offizielles Statement gibt, in welche Richtung es gehen soll.

Saied hatte versprochen, innerhalb von 30 Tagen einen neuen Regierungschef zu ernennen.

Das hat er nicht getan. Er regiert weiter per Dekret. Dabei ist die Exekutive laut Verfassung geteilt zwischen Präsident und Regierungschef. Ursprünglich hatte er auch angekündigt, die Strafverfolgungsbefugnis zu übernehmen, aber davon scheint er nach Gegenwind vom obersten Justizrat Abstand genommen zu haben.

Warum hat er keinen Regierungschef ernannt?

Wir können nur spekulieren. Vielleicht hat er den Posten Leuten angeboten, die aber ablehnten. Vielleicht hat er aber auch gar nicht geplant, einen Regierungschef innerhalb von 30 Tagen zu ernennen.

Im Interview: Fadil Aliriza

34, ist Journalist und Analyst. Er ist Gründer und Chefredakteur des unabhängigen tunesischen Nachrichtenportals „Meshkal“.

Wofür hat Saied die 30 Tage denn genutzt?

Er benutzt zwar nicht das Wort „Minister“, aber er hat Leute als Interimsminister ernannt, wobei er die Formulierung wählt, dass sie „zuständig“ sind, zum Beispiel für das Gesundheits- oder Finanzministerium. Außerdem scheint es Reisesperren und Hausarrest zu geben für Parlamentsabgeordnete und hohe Amtsträger*innen. Er sagte, Leute, denen Verbrechen vorgeworfen werden, müssen sich der Justiz stellen. Details kennen wir aber nicht, was viele dazu verleitet zu fragen, welche gesetzliche Grundlage diesen Schritten zugrunde liegt.

Kommt er damit durch?

Noch scheint Saieds Popularität sehr groß zu sein. Aber seine Zeit ist begrenzt, auch wenn sie über die 30-Tages-Frist hinausgehen mag. Seine Kri­ti­ke­r*in­nen werden immer lauter, je mehr Zeit vergeht und je länger kein klarer politischer Weg erkennbar ist: entweder ein neuer Regierungschef und ein Ende der Suspendierung des Parlaments oder radikalere Änderungen.

Zum Beispiel?

Viele spekulieren, dass er eine neue Verfassung anstrebt oder zumindest Verfassungsänderungen. Darüber hat er schon zu seiner Zeit als Professor für Verfassungsrecht und auch in seiner Wahlkampagne gesprochen. Er hat starke eigene Überzeugungen, wie das politische System aussehen könnte. Das geht in Richtung eines stärker dezentralisierten Regierungssystems, Richtung mehr direkte Demokratie, mehr Referenden. Wie das in der Praxis umgesetzt werden soll, ist aber unklar.

Wie könnte Saied eine grundlegende Änderung der Verfassung von 2014 durchsetzen?

Momentan gibt es keine wirkliche Kontrolle der Macht des Präsidenten, da es bislang kein Verfassungsgericht gibt. Es wird gemutmaßt, dass Saied ein Referendum ansetzen könnte über Verfassungsänderungen oder eine neue Verfassung. Aber ich zögere mit Vorhersagen. Saied hat uns schon zweimal überrascht: mit seiner ungewöhnlichen Wahlkampagne 2019, als er keine traditionellen Medien nutzte und gewissermaßen als Outsider auftrat, und mit seinen Schritten vom 25. Juli.

Warum protestiert Saieds Gegenspieler, die nun weitgehend entmachtete Ennahda-Partei, nicht stärker?

Es gab einen Protestaufruf und Proteste. Die Frage ist, warum Ennahda nicht mehr Menschen mobilisieren konnte. Teil der Antwort könnte sein, dass nicht alle innerhalb der Ennahda und ihrer Wäh­le­rschaft unbedingt ablehnen, was Saied gemacht hat. Das Parlament ist eine äußerst unbeliebte Institution. Viele sind überzeugt, dass es gänzlich korrupt ist und dass die Regierung nicht einmal versucht hat, die Gesundheits- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Viele sahen es auch als Betrug, dass Ennahda für eine Versöhnung, für eine Amnestie für frühere Amtsträger der Ben-Ali-Zeit gestimmt hat. Für einige hatte Ennahda ja die Ideale der Revolution von 2011 repräsentiert.

Die Gewerkschaftsvereinigung UGTT hat Saieds Schritt unterstützt, aber betont, dass er zeitlich begrenzt bleiben muss. Was sagt sie nun?

Die UGTT befindet sich in Wartehaltung. Sie sieht sich nicht nur als Verteidigerin der organisierten Arbeiter*innen, sondern als Teil der nationalen Befreiungsgeschichte. In der Vergangenheit hat sie nicht gezögert, ihre Muskeln spielen zu lassen, aber ich denke, sie will sich jetzt keinen Fehltritt leisten, sondern ihren Einfluss lieber im Hintergrund ausüben. Ich wäre überrascht, wenn es keinen Dauerdialog zwischen Palast und UGTT gibt, besonders weil ja die Wirtschaftskrise nicht nachgelassen hat. Tunesien soll weiterhin Kredite an internationale Geldgeber zurückzahlen.

Einer der wichtigsten Kreditgeber ist der Internationale Währungsfonds, mit dem Tunesien über einen Notkredit verhandelt. Wie steht die UGTT dazu?

Sie war kritisch gegenüber den Sparmaßnahmen, die in den letzten zehn Jahren mit IWF-Krediten einhergingen. Teilweise hat sie aber neoliberale Argumente übernommen, wenn es etwa darum ging, einfach mehr ausländische Investitionen anzuziehen. Zu den Preisanstiegen im Mai und Juni, die Saieds Maßnahmen gewissermaßen schon ahnen lassen haben, sagte die UGTT, dass IWF-Forderungen die Regierung zwangen, die Preise bestimmter Konsumgüter zu erhöhen.

Die EU und die USA waren auffällig still in den letzten Wochen. Sollten sie mehr Druck ausüben auf Saied?

Ich glaube nicht, das westliche Stellungnahmen helfen würden, besonders nicht im Kontext von Demokratie. In den letzten Jahren hat die Repression vonseiten des Staates keine Verurteilungen nach sich gezogen. Es gab ein sehr bequemes Bild von Tunesien als Demokratie, das nicht unbedingt der Realität vor Ort entsprach, vor allem nicht in den ärmeren Nachbarschaften. Da wären Verurteilungen zum jetzigen Zeitpunkt, da der Präsident Maßnahmen gegen das sehr unbeliebte Parlament ergreift, nicht sonderlich effektiv, auch wenn diese unklar, vielleicht sogar juristisch fragwürdig sind.

Wer übt dann Druck aus?

Es gibt viele Menschenrechtsaktivisten und zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Anwalts- und Journalistenvereinigung, die sich durchaus selbst in der Lage fühlen, ihre Stimme zu erheben. Sie alle beobachten sehr genau, was der Präsident tut. In den vergangenen zehn Jahren haben sie in einem Kontext mit recht viel Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit agiert. Keine dieser Organisationen wird diese Freiheiten wieder aufgeben.

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