Analyse: Ein kleiner, heißer Krieg
■ Zwischen den Atommächten Indien und Pakistan herrscht kein Frieden
Elf nukleare Sprengsätze haben Indien und Pakistan vor zwei Monaten gezündet. Den diplomatischen fall-out dieser Explosionen kann man täglich an vielen Orten der Welt spüren. Fest steht, daß in beiden Ländern fieberhaft daran gearbeitet wird, einsatzfähige Atomwaffen und die dazugehörigen Trägersysteme herzustellen. Das Geld und die Technologie sind vorhanden. Wer glaubt, hier noch mit Sanktionen etwas bewirken zu können, gibt sich Illusionen hin.
Während die Techniker letzte Hand an die Waffen anlegen, arbeiten die militärischen Planungsstäbe an der „Nukleardoktrin“: Die Kriegsszenarien werden durchgespielt, es wird festgelegt, an welchem kritischen Punkt in einem möglichen bewaffneten Konflikt die politische Führung über den Einsatz der Massenvernichtungswaffen zu entscheiden hat.
Der „mögliche bewaffnete Konflikt“ zwischen Indien und Pakistan ist jedoch eine feste Konstante. Artillerieduelle zwischen beiden Staaten entlang der Waffenstillstandslinie in Kaschmir haben in den letzten Tagen über 50 Zivilisten das Leben gekostet; die Zahl der getöteten Militärs – vermutlich geringer – ist unbekannt.
Der gegenseitige Beschuß von militärischen Stellungen und sogar Dörfern gehört seit Jahren zur „Normalität“ der umkämpften Region, genauso wie die Untergrundaktionen pakistanischer Infiltranten im indischen Teil Kaschmirs und die massive Unterdrückung der überwiegend muslimischen Bevölkerung durch das indische Militär.
Zeitgleich mit der Eskalation an der Grenze haben der indische Premier Atal Behari Vajpayee und sein pakistanischer Kollege Nawaz Sharif bei einem Treffen während der Konferenz der (kaum existenten) „Südasiatischen Regionalkooperation“ festgestellt, daß sie einander nichts zu sagen haben. Der Dialog der beiden verfeindeten neuen Nuklearmächte findet vorläufig nicht statt. Vertrauensbildende Maßnahmen, Klarheit über die jeweiligen unverzichtbaren Interessen und die Nukleardoktrin des Gegners – all diese lebenswichtigen Notanker am Rande des Abgrunds sind keine Themen für die Großen der Region.
Es hat 25 Jahre gedauert, bis sich die USA und die UdSSR 1970 zu einem ersten Vertrag über nukleare Rüstungskontrolle durchgerungen hatten. Aber sie hatten wenigstens den Vorteil, daß sich beide Seiten schon lange davor stillschweigend auf eine gemeinsame Doktrin geeinigt hatten: MAD (Mutual Assured Destruction). Die beiden atomaren Neulinge sind zu groß und zu arm, um den Gegner mit totaler Vernichtung bedrohen zu können. Gerade das kann – zusammen mit fehlender Dialogbereitschaft und der Entwicklung von Miniatomwaffen – dazu beitragen, daß das Undenkbare denkbar wird. Andrea Goldberg
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