■ An einem lauen Abend unterwegs zum Berliner Tiergarten, und dann das: Bloße Augenblicke
Es gibt Momente im Leben, da muß man ganz einfach glauben, daß Gott doch nicht tot ist – weil nämlich sonst der arme Zufall unter der eigenen Bedeutungsschwere zusammenbrechen würde. So etwa an einem lauen Frühlingsabend vor ein paar Wochen: Als ich mit meinem Fahrrad unterwegs zum Joggen in den Tiergarten war, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Die Straße des 17. Juni wurde von ein paar Grünuniformierten auf Motorrädern abgesperrt, ein Polizeiwagen rollte heran, aus dessen Lautsprecher die Durchsage dröhnte: „Es folgt eine Kolonne. Warten Sie, bis die grüne Flagge erscheint.“ Leicht genervt stützte ich mich auf meinen Lenker und beobachtete das vorüberziehende Aufgebot an Fahrzeugen.
Irgendwann fiel mir dabei ein, daß Berlin gerade zusammen mit Präsident Clinton 50 Jahre Luftbrücke feierte, und ich zählte zwei und zwei zusammen. Es dauerte nicht lange, da tauchte vom Brandenburger Tor her eine riesige schwarze Limousine auf, links ein deutsches Fähnchen, rechts ein amerikanisches. Oha. Während mein Hirn langsam registrierte, daß da drin jetzt wahrscheinlich Bill Clinton saß, rollte der Wagen auch schon direkt an mir vorbei. Und da passierte es: In dem Moment, als ich erkennen konnte, daß Mr. President tatsächlich da drin saß, drehte er sich langsam um, schaute mir direkt in die Augen und winkte. Ich winkte im Affekt zurück. Und fort war er. Einen Augenblick jedoch hatten sich unserer Blicke getroffen, und die Zeit war stehengeblieben. Und das nicht etwa, weil ich eine Lewinskysche Schwäche für mächtige Männer habe. Die Welt stand still, weil sich unserer Blicke trafen und ich in diesem einen Augenblick all das, was Bill für mich ganz persönlich bedeutet, in seinen Augen lesen konnte: die unendliche Traurigkeit, weil ich damals, 1992, tatsächlich geglaubt hatte, daß es mit uns etwas werden könnte – mit ihm und meinen Hoffnungen auf ein gerechteres Amerika. In seinem Blick lag auch die Resignation vor der großen Frage, ob es überhaupt anders hätte laufen können, und schließlich die bittere Erkenntnis, daß diese Frage belanglos geworden war.
All das und noch viel mehr lag in diesem einen Augen-Blick. Natürlich konnte man es nicht wirklich sehen, dazu waren schon allein die Panzerglasscheiben zu undurchsichtig. Ganz zu schweigen davon, daß Bill Clintons Blick selbst für mich kein offenes Buch ist – aber in diesem Moment schien alles möglich. Nicht für lange, denn der Verkehr rollte schon wieder weiter. Während ich im Park – mit meinen Gedanken noch ganz bei der seltsamen Begegnung mit Bill – bald diesen, bald jenen Weg einschlug, registrierte ich plötzlich einen etwas debil aussehenden Typen im Trainingsanzug, der mit einem leisen „Hallo, Entschuldigung“ meinen Blick auf sich zog. Diesen Moment nutzte der junge Mann seinerseits, um sich die Hose runterzuziehen und mir die Pracht seiner entblößten Männlichkeit vor Augen zu halten. Na toll, ein Exhibitionist im Tiergarten. Ehe ich überhaupt überlegen konnte, hatte ich schon halb genervt, halb verärgert abgewunken und war an ihm vorbeigelaufen. Erst ein paar Meter weiter kam mir das eben Geschehene überhaupt zu Bewußtsein. Scheiße, was bildete der sich überhaupt ein? Mir den Anblick seines Pimmels aufzuzwingen, wo ich doch gerade nur ungestört über mich und Billy sinnieren wollte. Und da erst dämmerte mir, wie ungeheuerlich das Zusammentreffen dieser beiden Begegnungen war: Mindestens ein halbes Dutzend Aufsätze könnte man darüber schreiben. Und alle würden sie sich um die schicken Begriffe „Blick“, „Macht“, „Imagination“, „Zufall“ und „Kontrolle“ drehen. Kontrolle? Wo waren übrigens die ganzen Bullen geblieben, die sich eben noch zum Schutz von Mr. Clinton gegenseitig auf die Zehen getappt waren?
Ich will ja nicht blasphemisch sein, aber Gott muß schon einen ziemlich kranken Humor haben. Der amerikanische Präsident und ein Exhibitionist am selben Tag in unser aller Tiergarten – ein bißchen viel, finden Sie nicht? Tiziana Zugaro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen