■ Dokumentation: Boris Jelzin und der Oberste Sowjet: An die Bürger Rußlands
Auszüge aus der Rede von Präsident Jelzin:
Im Juni 1991 haben Sie mich zum Präsidenten gewählt, schenkten Sie mir Ihr Vertrauen, den Staat der Russischen Föderation zu führen. Damals gab es erstmals in der tausendjährigen Geschichte des Landes eine Wahl, die Wahl des Staatschefs und die Wahl des Weges, auf dem Rußland vorwärtsgehen soll. Entweder weiter in die kommunistische Sackgasse abgleiten oder tiefgreifende Reformen beginnen ...
Der 8. Kongreß der Volksdeputierten war die erste Generalprobe für die Revanche der früheren Partei- Nomenklatura ... Dem Volk wurde hochmütig das Recht verwehrt, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. ... Auf dem Kongreß hat sich die imperialistische Ideologie zu erkennen gegeben. Wenn sie wieder zur Grundlage der Politik wird, dann wird Rußland unausweichlich in militärische Konflikte mit den Nachbarstaaten gezogen. Auf dem Kongreß ertönten erneut die Losungen des Kalten Krieges ... Die Gemeinsamkeiten bei der Suche nach einer Übereinkunft mit der konservativen Mehrheit der Deputierten sind völlig aufgebraucht ...
Nach zahlreichen Konsultationen habe ich folgende Entscheidung getroffen: Ich habe heute einen Erlaß über eine besondere Verwaltungsordnung bis zur Überwindung der Machtkrise unterzeichnet. Darin wird eine Vertrauensabstimmung über den Präsidenten und Vizepräsidenten der Russischen Föderation für den 25. April angesetzt ... Gleichzeitig ... wird es eine Abstimmung über den Entwurf einer neuen Verfassung und eine neues Wahlgesetz zum Parlament geben ... In Übereinstimmung mit der Verfassung und dem Wahlgesetz wird dann ein neues russisches Parlament, aber kein Kongreß gewählt werden. In der neuen Verfassung wird es keinen Kongreß mehr geben ...
Auszüge aus der Erklärung des Präsidiums des Obersten Sowjet:
Die Rede des Präsidenten an die Bürger Rußlands, in der eine besondere Verwaltungsordnung des Landes verfügt wird – wozu ihn seine Umgebung offen aufgerufen hat –, erweist sich als Versuch, eine autoritäre Diktatur zu errichten, als Anschlag auf die gesetzlich gewählten Machtorgane. Daß die besondere Verwaltungsordnung im Interesse der Russen und zur Stärkung der Macht eingeführt wurde, sind heuchlerische Begründungen ...
Heute verwandelt sich Rußland in ein rückständiges, abhängiges Land mit einem gedemütigten und ausgeraubten Volk ... Die Furcht vor dem eigenen Volk zwang die Umgebung des Präsidenten, ihn zu einer offenen Verletzung der Verfassung zu drängen, zu einem Versuch mit dem Kurs, der gescheitert ist, bei wachsendem Widerstand der Russen fertig zu werden.
Mit der Erklärung der besonderen Verwaltungsordnung des Landes hat sich Jelzin gegen die verfassungsmäßigen Gesetze und die Lebensinteressen des russischen Volkes gestellt ...
In dieser für unsere Heimat dramatischen Stunde ist es notwendig, alles für eine wirkliche Stabilität des Verfassungsaufbaus, für die Wiedergeburt eines freien, demokratischen und unabhängigen Rußlands zu tun.
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