Amnesty-Generalsekretärin über Menschenrechte: "Der Westen ist kein Vorbild"
In Lateinamerika und Asien gewinnen Menschenrechte an Bedeutung, sagt Amnesty-International-Generalsekretärin Khan. Im Westen klafften Anspruch und Realität oft auseinander.
taz: Frau Khan, 60 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte liefert amnesty international in seinem neuen Jahresbericht eine ziemlich pessimistische Einschätzung. Können Menschenrechtsorganisationen einfach nie zufrieden sein oder halten Sie die Lage wirklich für so schlecht?
Irene Khan: Wir müssen uns doch nur auf der Welt umschauen. In Birma müssen seit drei Wochen eineinhalb Millionen Menschen ohne Hilfe auskommen, weil das Militärregime den Zugang verweigert. Schauen Sie nach Darfur im Sudan, Simbabwe, Irak, den gesamten Nahen und Mittleren Osten - ich glaube nicht, dass man besonders pessimistisch sein muss, um zu dem Schluss zu kommen, dass 60 Jahre nachdem die Erklärung der Menschenrechte angenommen wurde, für Millionen Menschen einfach keine Menschenrechte existieren.
Aber es ist doch viel passiert: Der Kalte Krieg ist gekommen und gegangen, in den Ländern Osteuropas gibt es jetzt demokratische Freiheiten. Ist das kein Grund, Fortschritte zu feiern?
Sicher, 1948 war Europa durch den Zweiten Weltkrieg zerstört, der Kalte Krieg begann, und große Teile der Welt standen noch unter dem Joch der Kolonialherrschaft. Seitdem sind viele Verträge und internationale Vereinbarungen ausgehandelt worden und in Kraft getreten. Aber es gibt noch immer viel zu viele Menschen auf der Welt, für die Menschenrechte keine Bedeutung haben. Mir ist das zu wenig Fortschritt zum Feiern.
Sie sagen: Weder die Vetomächte des UN-Sicherheitsrates noch die Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrates noch irgendjemand sonst orientiert seine Politik an Menschenrechten. Auf wen können Sie denn zählen?
Auf Druck von unten. Eine der größten positiven Veränderungen der letzten 60 Jahre ist das weltweite Bewusstsein für Menschenrechte. In Lateinamerika gibt es starke soziale Bewegungen und eine aktive Zivilgesellschaft, in großen Teilen Asiens auch. Das zeigt auch Wirkung: Vergleichen Sie, wie die chinesische Regierung heute mit der Erdbebenkatastrophe umgeht und wie sie mit dem Erdbeben vor 30 Jahren umging. Die größere Transparenz, für die auch moderne Kommunikationstechnologie sorgt, zwingt Regierungen zu Verhaltensänderungen.
Viele Jahre lang haben sich die USA als Vorkämpfer der Menschenrechte verstanden und sind im Westen auch in dieser Rolle akzeptiert worden. Heute sind die USA Ziel massiver Kritik. Ist das auch die Enttäuschung, einen Partner verloren zu haben?
Amnesty hat schon lange vor dem "Krieg gegen den Terror" Menschenrechtsverletzungen in den USA kritisiert, etwa in unserer Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe. Aber Sie haben Recht: Die westlichen Regierungen mit den USA als Führungsmacht haben sich immer als Vorbilder in Menschenrechtsfragen gesehen und die Menschenrechtsagenda tatsächlich vorangetrieben. Das ist vorbei.
Stattdessen sehen sich heute gern die westeuropäischen Länder als weltweite Vorreiter. Teilen Sie diese Ansicht?
Sie pflegen gern dieses Bild, sind aber weit hinter diese eigenen Ansprüche zurückgefallen. Gleichzeitig ist im Süden eine sehr dynamische Zivilgesellschaft herangewachsen, die Menschenrechte nicht als westliche Werte begreift, sondern als universelle. Das bringt eine neue Dynamik: Menschenrechte sind kein westliches Exportgut - sie sind längst globale Werte, an denen sich Regierungen weltweit messen lassen müssen, weil ihre Bevölkerungen das von ihnen fordern.
Aber meinen Sie denn, dass in den westlichen Gesellschaften überhaupt ein so großes Bewusstsein vorhanden ist? Selbst in Deutschland führen wir mitunter Debatten, ob Folter nicht unter bestimmten Umständen erlaubt sein sollte, etwa um das Leben eines Kindes zu retten.
Wir haben unter jungen Leuten im Nahen und Mittleren Osten eine Umfrage machen lassen. Sie waren alle gegen Folter. Dort, wo Menschen wissen, wie zerstörerisch Folter wirken kann, weil sie im Sicherheitsapparat vielfach praktiziert wird, sind sie dagegen. Hier im Westen sind wir bequem geworden - wir können uns nicht vorstellen, dass sich Folter gegen uns selbst richten könnte, und sind dann bereit, Folter etwa gegen mutmaßliche Kindesentführer zuzulassen.
Bei einer Infratest-Umfrage im Auftrag der deutschen Sektion von amnesty waren im April dieses Jahres 42 Prozent der Deutschen nicht in der Lage, auch nur ein einziges Menschenrecht zu benennen. So weit kann es nicht her sein mit dem Bewusstsein, oder?
Das ist Gleichgültigkeit. Die Deutschen haben das Privileg, in einer Wohlstandsgesellschaft zu leben. Sie machen sich über ihre Rechte keine Sorgen. Es ist auch ein Zeichen mangelnder Menschenrechtserziehung in Deutschland. Ich würde aber vermuten, dass in Ostdeutschland der Anteil derjenigen, die ein Menschenrecht benennen können, höher ist - immerhin sind ihnen die Menschenrechte lange vorenthalten worden.
An den neuen, reformierten UN-Menschenrechtsrat waren große Erwartungen geknüpft. Inzwischen aber sieht es so aus, als ob die Mitglieder des Rates genau wie vorher in der Kommission vor allem dafür arbeiten, zu verhindern, dass sie selbst verurteilt werden?
Der Rat arbeitet seit zwei Jahren. Davon war er ungefähr ein Jahr damit beschäftigt, sich überhaupt zu etablieren. Der interessanteste und neue Teil, die gegenseitige menschenrechtliche Beurteilung der Ratsmitglieder, hat gerade begonnen. Das wird die Feuerprobe dafür, ob der Rat ein nützliches Instrument wird oder ein Vehikel des Cover-Up.
Sind Sie optimistisch?
Abwarten. Ich denke, das Potenzial dieses Prozesses ist groß -und wir haben keine andere Option.
Während wir sehr ausführlich über bürgerliche und politische Rechte sprechen, sind die genauso gültigen wirtschaftlichen und sozialen Rechte fast in Vergessenheit geraten. Woran liegt das?
Historisch waren bürgerliche und politische Rechte immer das Thema des Westens, während die sozialistischen Länder immer die wirtschaftlichen und sozialen Rechte betonten - wie eine Berliner Mauer mitten durch die Menschenrechte. Erst seit dem Fall der Mauer wird das allmählich anders.
Aber auch Organisationen wie amnesty machen ihre Kampagnen in aller Regel zu Verletzungen politischer und bürgerlicher Rechte. Warum?
Historisch hat sich amnesty international immer nur um politische und bürgerliche Rechte gekümmert, um politische Gefangene, Folter und so weiter. Erst seit 2001 beschäftigen wir uns überhaupt auch mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten.
Aber in Ihrem Bericht spielen diese Rechte eigentlich keine Rolle.
Das stimmt so nicht ganz. In unserem Bericht finden Sie zum Beispiel unzählige Hinweise auf Gewalt gegen Frauen - und das ist ein Thema, das mit fast allen wirtschaftlichen und sozialen Rechten eng verbunden ist. Diskriminierung, soziale Exklusion und Gewalt gegen Frauen wirken gemeinsam. In Ländern, in denen Frauen diskriminiert werden, wo sie zum Beispiel keinen Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen erhalten, ist auch die Gewalt gegen Frauen besonders hoch.
Ist es für amnesty schwieriger geworden, sich Gehör zu verschaffen? Als Sie vor zwei Jahren die CIA-Gefängnisse und Guantánamo mit dem Gulag verglichen haben, hat das den Eindruck erweckt, amnesty international müsse jetzt völlig überzogen agieren, um wahrgenommen zu werden.
Es geht darum, diese Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Die Deutschen etwa bekommen von Menschenrechtsverletzungen nichts mit, selbst wenn es auch in Deutschland welche gibt, etwa gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. Man braucht eine starke Botschaft, um die Menschen aufzuwecken. Bei Regierungen und politischen Entscheidern gibt es ein anderes Phänomen: Sie beherrschen inzwischen das menschenrechtliche Vokabular. Es ist für uns heute einfach, Zugang zu höchsten Regierungsebenen zu bekommen - vor 40 Jahren wäre das nie möglich gewesen. Sie hören uns zu. Das heißt aber nicht, dass sie auch dementsprechende Politik machen. Die Aufgabe bleibt die gleiche.
INTERVIEW: BERND PICKERT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos