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Amerikas Rechtfertigung durch Eiskrem

Gesellschaftskritik kann man auch singen und tanzen. Das beweist „Street Scene“ – Kurt Weills amerikanische Oper, Immigrantenepos eines Exilanten, jetzt in einer wunderbaren Aufführung im Theater des Westens  ■ Von Jörg Lau

Ein Klassiker der amerikanischen Soziologie trägt den Titel: „Street Corner Society“. Das würde auch sehr gut auf die Oper von Kurt Weill passen, die jetzt im Theater des Westens zu sehen ist. Ein erstaunliches Stück: gesungene und getanzte Soziologie der amerikanischen Gesellschaft der vierziger Jahre, die sich in einem Mietsblock eines Arme-Leute-Viertels von New York kristallisiert. „Street Scene“ ist die Immigrantenoper eines Exilanten. Die Bewohner dieses Hauses sind Einwanderer aus Italien, Deutschland, Schweden, Frankreich und Polen, und was sie verbindet, sind – neben den ewigen Motiven von Liebe, Neid und Eifersucht – Konflikte, die auch unsere heutigen großen Städte prägen: Gruppenrivalitäten, Rassismus, Verelendung.

Das Kunststück Weills und seiner Autoren Elmer Rice und Langston Hughes besteht nun darin, aus diesem Stoff ein Stück Popkultur gemacht zu haben. „Street Scene“ heißt mit Recht eine Broadway-Oper; hier wird an die Tradition der Oper als populäre Kunstform angeknüpft. Man könnte auch sagen, hier wird den Leuten ihre Kunstform zurückgegeben, indem sie selber zu ihren Helden gemacht werden. Kurt Weill sah das Stück von Elmer Rice, auf dem die Oper basiert, schon 1932 in Berlin. Im amerikanischen Exil nahm er mit dem Autor Kontakt auf und bearbeitete ihn jahrelang, bis Rice endlich einwilligte, sein sozialkritisches Drama zum Libretto umzuschmieden. Langston Hughes, Bürgerrechtler, schwarzer Agitpropdichter und Direktor des „Harlem Suitcase Theatre“, schrieb die Songtexte.

Die Anlage von „Street Scene“ ist äußerst kühn: getreu dem Titel gibt es keine Vorhänge, keine Umbauten – alle Geschehnisse entrollen sich in einer Szenerie und bilden einen anfangs- und endlosen Fluß des Geschehens, wie es dem Großstadtleben ja auch angemessen ist. Was freilich nicht heißt, daß keine Spannung aufkäme. Die Episoden kulminieren in einer schrecklichen Mordtat, auf die das Publikum mit allen dramaturgischen Mitteln hingespannt wird.

Aber hineingezogen wird man in diese Welt schon durch das wunderbare Bühnenbild von Adrianne Lobel, das eine leicht heruntergekommene Ecke einer weißen neighbourhood vor Augen stellt. Es gibt in diesem Stück nur Außenräume – Straßen, Bürgersteige und Haustreppen, auf denen sich die Leute begegnen, um zu streiten, zu flirten, zu tratschen oder sich zu prügeln. Das Innenleben läßt sich nur durch ein paar Blicke in Flure und Fenster erahnen.

Schnell zeigen sich die Kampflinien, die dieser zufälligen – und in ihrer Zufälligkeit repräsentativen – Ansammlung von Städtebewohnern Struktur geben: Da ist der alte Abraham Kaplan, der vor den Nachbarn Predigten gegen die verblendenden „capitalist papers“ abhält und zur Revolution ruft. Sein Gegenspieler ist der reaktionäre Frank Maurrant, ein Choleriker, der Frau und Tochter schikaniert und Klagelieder über den Verfall der amerikanischen Werte schmettert. Seine Tochter, eine kleine Angestellte, liebt zaghaft den jungen Intellektuellen aus dem Nachbarhaus. Der liebt sie wieder, ist aber zu schüchtern, um sie für sich einzunehmen. Die beiden müssen noch durch schlimme Dinge hindurch, bis sie sich finden – und dann geht's doch übel aus. („Street Scene“ endet tragisch.)

Die eigentliche Heldin ist Anna Maurrant, die Frau des Reaktionärs, die sich vor der Grobheit ihres Mannes in die Arme eines anderen flüchtet. Es ist der Milchmann, und wenn er zweimal klingelt, bangt man mit dem Paar.

Um diesen Kern sind eine Reihe von spannenden Episoden drapiert, so daß einem die 2 3/4 Stunden wie im Fluge vergehen: das frivole Liebespaar, der aufdringliche Chef, der seine Sekretärin „ins Showbusiness“ zu bringen verspricht, eine Zwangsräumung, der Klatsch der Hausfrauen, ein politischer Streit um das Wohl der arbeitenden Klasse.

Die Weillsche Musik hat sich den ganzen Klang Amerikas einverleibt, von der Polizeisirene bis zum Bebop, und läßt ihn mit der europäischen Operntradition zusammenkrachen. Am gelungensten ist das Ergebnis in dem „Ice- Cream-Song“, der von dem dicken italienischen Herrn im Haus angestimmt wird und in den dann das Ensemble mit den wunderbar ausgebildeten Opernstimmen einfällt. Amerika, wird uns hier sehr tongue-in-cheek beigebracht, ist schon durch die Verfeinerung des Speiseeises gerechtfertigt. Das konnte Weill nur in Amerika gelingen: eine Oper, die reiner Pop ist, gesungene und getanzte Gesellschaftskritik und Affirmation Amerikas zugleich.

„Street Scene“, bis 2.3., Di.–So. ab 20 Uhr, im Theater des Westens, Kantstraße 12.

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