Amerikanischer Traum in der Krise: "In der Mitte gibt es nichts mehr"
Sowohl kulturell als auch geografisch spiegelt der Mittlere Westen die Mitte des Landes. Der Mythos vom ehrlichen Amerika wird aber zunehmend von Krise und Globalisierung bedroht.
taz: Herr Longworth, Sie sind in Boone aufgewachsen, einer Kleinstadt mitten in Iowa. Wie hat sich diese Stadt in den letzten Jahrzehnten verändert?
Richard C. Longworth: Ein paar alte Geschäfte haben geschlossen, die Hauptstraße ist etwas schäbiger. Seltsamerweise sieht die Stadt sonst noch fast genauso aus wie früher, obwohl sich ihr Charakter stark verändert hat.
Inwiefern?
Richard C. Longworth 75, ist Autor des Buches "Caught in the Middle: Americas Heartland in the Age of Globalism". Der Journalist hat monatelang den Mittleren Westen bereist. Er arbeitete lange für die Chicago Tribune und für United Press International. 20 Jahre hat er als Korrespondent aus anderen Ländern berichtet, etwa aus Russland oder aus Europa. Longworth ist Senior Fellow des Chicago Council on Global Affairs, eines unabhängigen Thinktanks für internationale Angelegenheiten, und er schreibt den Blog "The Midwesterner" unter www.globalmidwest.org.
In meiner Jugend war Boone eine Stadt, die vom Ackerbau und ihrer Eisenbahnanbindung lebte. Die Menschen lebten in der Stadt, arbeiteten und kauften dort ein - wie auf einer kleinen Insel. Heute ist die Eisenbahn verschwunden, viele Farmen auch, dafür gibt es wenige sehr große. Boone ist zu einer Wohn- und Schlafstadt für benachbarte Großstädte wie Des Moines geworden.
Die Stadt liegt im Mittleren Westen, einer der wichtigsten Wirtschafts- und Ackerbauregionen der USA. Ist sie ein gutes Beispiel für den dramatischen Wandel, den die Region durchmacht?
Nur bis zu einem gewissen Grad. In Boone war kaum verarbeitende Industrie ansässig, die Stadt hatte nicht viel zu verlieren. Ehemalige Industriestädte leiden sehr viel mehr unter der Globalisierung und unter der Wirtschaftskrise. Kleinstädte im Mittleren Westen müssen sich - wenn sie zu weit weg von Großstädten liegen -, selbst neu erfinden - oder sie erleben einen dramatischen Niedergang. Den meisten passiert Letzteres.
Was bedeutet es für die USA, wenn das Herz des Landes, das Heartland, abstürzt?
Die Tatsache, dass Landwirtschaft und Schwerindustrie hier so stark von der Globalisierung getroffen wurden und dass die Region dem Wettbewerb nicht standhalten konnte, ist ein Warnsignal für die ganze Nation. Denn auch andere Gegenden sind verwundbar: der Süden mit seiner Schwerindustrie, aber auch Staaten wie Kalifornien, in denen Hightech-Firmen siedeln.
Warum ist der Mittlere Westen nach wie vor so wichtig für die USA? Mais oder Getreide sind auf dem Weltmarkt günstig zu haben.
Erstens: Der Mittlere Westen ist nach wie vor der Brotkorb der USA, hier werden riesige Mengen Mais, Getreide, Sojabohnen oder Fleisch produziert. Zweitens: Es ist ein Ort mit Geschichte. Hier hat die industrielle Revolution der USA begonnen, hier hat Henry Ford die Fließbandfertigung von Autos erfunden.
Und drittens ist der Mittlere Westen für viele Amerikaner etwas Besonderes, oder?
Richtig, er liegt eben in jeder Hinsicht in der Mitte Amerikas, sowohl geografisch als auch kulturell. Hingabe, Ehrlichkeit, harte Arbeit, das sind Werte, auf die Amerikaner stolz sind, und sie kommen von hier. Viele denken, wenn das Herz des Landes Probleme hat, ist die Lage ernst.
Was sind die größten Probleme?
Von Ausnahmen wie Chicago oder Minneapolis abgesehen kämpfen fast alle großen Städte mit den Folgen der Globalisierung. St. Louis, Milwaukee, Cleveland oder Detroit sind nur noch halb so groß wie früher. Hier wurden Dinge produziert, Autos, Stahl und anderes, in industriellen Fertigungslinien. Die Arbeiter waren schlecht ausgebildet, haben aber hart gearbeitet und konnten sich so einen Lebensstil der Mittelklasse leisten. Diese Jobs sind heute fast alle verschwunden, die Menschen sind aber noch da. Und es fällt ihnen schwer einzusehen, dass neue Industrien und andere Bildung gebraucht werden.
Die Arbeitslosenquote liegt im Mittleren Westen bei 9,5 Prozent, wie im Rest der USA auch. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass der Mittlere Westen gar nicht so schlecht dasteht?
Es kommt nicht nur auf die Zahl der Jobs an, sondern auch auf ihre Struktur. Eine Wissenschaftlerin der Ohio State University hat den Arbeitsmarkt der Region untersucht. Er ähnelt einer Eieruhr. Am oberen Ende gibt es viele, sehr gute Arbeitsplätze, vor allem in Städten wie Chicago. Auch am unteren Ende gibt es viele, sehr schlechte Jobs, die oft von Immigranten erledigt werden. In der Mitte gibt es nichts mehr.
Wie gut stellt sich die Region auf die Folgen von Globalisierung und Wirtschaftskrise ein?
Bisher schlecht. Eines hat sich aber in den letzten Jahren geändert: Die Menschen realisieren, dass die alten Wege nicht mehr funktionieren. Das ist immerhin Schritt Nummer eins.
Und andere Schritte?
Die Region muss sich zum Beispiel viel stärker auf grüne Industrien konzentrieren. Es gibt ein enormes Wissen über Produktion und Fertigung in der Region, dies ließe sich auch für Windräder und Solarzellen nutzen.
Ein großer Teil der Maisernte wird bereits für Ethanol genutzt, also für Biosprit. Denken Sie an so etwas?
Hinter der Ethanolproduktion stecken vor allem politische Gründe. Weil Menschen Arbeit brauchen und Farmer Mais verkaufen wollen, fördert sie die Regierung mit Subventionen und versucht, Ethanol aus Brasilien aus dem Markt zu halten. Ohne diesen politischen Druck wäre Ethanol erledigt. Viele Experten halten Ethanol für eine Luftnummer, es verbraucht bei der Produktion so viel Energie wie es bereitstellt.
Was sind dann Wege aus der Misere?
Das Bildungssystem muss dringend reformiert werden, um mehr Menschen besser zu qualifizieren. Es gibt in den USA kein kombiniertes Schul- und Berufsausbildungswesen wie in Deutschland, aber so genannte Community Colleges könnten als Ersatz funktionieren. Highschools und örtliche Colleges müssten enger zusammenarbeiten, Universitäten müssten lernen, ihre Ideen stärker zu vermarkten. Und wir müssen Risikokapital in die Gegend locken.
Wie das? Wer investiert in Boone, Iowa?
In den meisten dieser Kleinstädte gibt es ein oder zwei Familien, die reich sind. Die Eltern sind alt. Wenn sie sterben, wandert das Geld nach New York, wo die Kinder leben. Dieser Wohlstands-Transfer ist ein großes Problem. Zumindest mit einem Teil dieses Geldes ließen sich Stiftungen gründen, um die lokale Wirtschaft zu unterstützen.
Gibt es dafür Beispiele?
In dem Ort Kalamazoo in Michigan existiert eine von Familien gegründete Stiftung. Sie zahlt die volle College-Ausbildung jedes Schülers, der an der Kalamazoo Highschool seinen Abschluss macht. Daraufhin sind sehr viele Eltern in die Stadt gezogen. Und es gibt andere Ansätze.
Warum sollte man ausgerechnet in sterbenden Städten Schulen und Universitäten mit viel Geld teurer und besser ausstatten?
Natürlich könnte man - strikt ökonomisch gedacht - in vielen Städten einfach das Licht ausschalten. Aber politisch und humanistisch gedacht ist das keine Option für eine Region, die überleben kann. Und Kindern die beste Ausbildung zu geben, und diese später in einer neu strukturierten Wirtschaft zu nutzen, ist der beste Weg der Städte zum Überleben.
Was denken Sie, wird der Mittlere Westen überleben?
Nun, ich habe Hoffnung. Es ist wie mit den Cubs, dem Baseball-Team von Chicago - es sind liebenswerte Verlierer. Es ist hundert Jahre her, dass sie eine Meisterschaft gewonnen haben. Aber wir in Chicago sagen: Nun, jeder kann ein schlechtes Jahrhundert haben.
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