Am schwächsten, als ich am härtesten war

Heinrich Albertz, protestantischer Theologe, ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin und unruhiger Ruheständler, starb im Alter von 78 Jahren in Bremen  ■ Aus Bremen Bernhard Pötter

Angst vor dem Tod habe er nicht, sagte Heinrich Albertz in letzter Zeit, immer wenn er auf sein Buch „Am Ende des Weges“ angesprochen wurde. Im Gegenteil. Sein Gottvertrauen lasse ihn zuversichtlich, hoffnungsfroh und neugierig in die Zukunft nach dem Tod blicken. Inzwischen weiß er mehr: Der Theologe, streitbare Sozialdemokrat und Querdenker starb im Alter von 78 Jahren in der Nacht zum Dienstag in einem Bremer Altenheim.

Heinrich Albertz, 1915 in Breslau geboren, geriet in seinem Leben mit vielen Menschen und Institutionen über Kreuz. Als junger Pfarrer der Bekennenden Kirche wurde er von den Nazis mehrmals verhaftet und verhört, weil er öffentlich für den Pastor Martin Niemöller gebetet hatte, der im KZ saß.

Nach dem Krieg, in den er als Soldat abkommandiert wurde, avancierte er 1948 in Niedersachsen zum Flüchtlingsminister und ging 1955 nach Berlin. Dort machte ihn Willy Brandt 1961, im Jahr des Mauerbaus, zum Innensenator. Als Brandt 1966 als Außenminister nach Bonn zog, wurde Heinrich Albertz Regierender Bürgermeister von Berlin.

In seine Amtszeit fiel der Besuch des Schahs von Persien in Berlin, die Protestdemonstrationen und der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am 2.Juni 1967 vor der Deutschen Oper in Berlin von einem Polizisten erschossen wurde.

Albertz saß währenddessen mit dem Schah in der Oper. Der Tod von Ohnesorg wurde für ihn zu einem Wendepunkt in seinem politischen und persönlichen Leben: „Ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2.Juni, weil ich dort objektiv was Falsches tat.“

Im September 1967 trat Albertz von seinem Amt als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück – ein Schritt, den er als Befreiung empfand. Der frühere APO-Gegner kam mit den Studenten ins Gespräch und geriet im Verlauf der Unruhen nach dem Dutschke-Attentat 1968 in immer stärkeren Gegensatz zu seiner Parteileitung. Er legte deshalb ein SPD-Amt nach dem anderen nieder. Als die „Bewegung 2.Juni“ 1975 den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz entführte, flog Albertz als Sicherheitsgarantie mit den freigepreßten Häftlingen in den Jemen.

Auch nach seinem Rückzug aus dem politischen Tagesgeschäft und selbst nach seinem freiwilligen und bewußten Wechsel von Berlin in ein Bremer Pflegeheim hielt Albertz nicht den Mund, wenn ihm etwas am Herzen lag. Er engagierte sich in der Friedensbewegung und in der Anti-Atom-Gemeinde. „Man sucht sich die Dinge nicht aus“, sagte der protestantische Pfarrer zu seinen vielen Aktivitäten. „Ich habe nicht immer beschlossen, etwas Neues anzufangen, sondern in meinem umgetriebenen Leben bin ich immer wieder in neue Verantwortungsbereiche und Ämter, aber auch in völlige Verlassenheit geraten.“ Angesichts der Aufgaben und Sorgen, die an ihn herangetragen wurden, sei er oft an der „Grenze zur Resignation und Ermüdung“ gewesen, sagte er. „Aber meine Erfahrung sagt, daß man über die Dinge hinwegkommt. Resignation ist die Ursünde des Christentums.“

Heinrich Albertz wurde zum wichtigen Anwalt für einen Dialog zwischen Staat und RAF-Terroristen, die er als „verlorene Söhne und Töchter“ im biblischen Sinn begriff. Er besuchte sie in den Gefängnissen und setzte sich im großen Hungerstreik der RAF-Häftlinge im März 1989 für ihre Forderung, eine Zusammenlegung, ein. Dem Generalbundesanwalt Karl Rebmann, der sich dieser Forderung widersetzte, warf Albertz eine unmenschliche Haltung vor: „Wenn man dem Generalbundesanwalt folgt, wird der Tod im Gefängnis das letzte Wort haben. Das kann man natürlich in Kauf nehmen, wie Frau Thatcher zehn Tote der IRA in Kauf nahm. Aber dann soll man nicht von Menschlichkeit und christlichen Grundwerten reden.“

An seiner evangelischen Kirche hatte Albertz ebenfalls vieles zu kritisieren und hängte es dann auch an die große Glocke. Die Kirche in der Bundesrepublik habe sich im Gegensatz zu den Protestanten in der DDR immer auf die Seite der Mächtigen gestellt, sagte er. Wenn die Kirche selbst zeigen wolle, wie Frieden möglich sei, Gerechtigkeit verwirklicht werden könne und Minderheiten zu schützen seien, dann habe sie Wirkung – „doch leider hat sie das selten getan“.

In den Nachrufen auf Heinrich Albertz wird die Beschreibung „unbequem“ großgeschrieben. Im politischen Alltagsgeschäft wurde der protestantische Mahner und Rufer nicht gerne gehört. So kassierte er verbale Prügel für seine Einschätzung der DDR-Flüchtlinge im Oktober 1989: Er sei „keineswegs beeindruckt“ von den jungen Leuten, denn „sie sind dieselben angepaßten Aufsteiger, die wir hier schon zu Tausenden haben und die uns noch viel Kummer machen werden“. Die DDR-Flüchtlinge suchten in der BRD nur Wohlstand und Konsum und würden mit offenen Armen empfangen, „während gleich nebenan Asylbewerber aus der Dritten Welt ihre Fluchtmotive darlegen müßten, vor Grenzbeamten, die sie am liebsten gleich wieder abschieben würden“. Die Grünen nannten diese Stellungnahme „links, aber nicht christlich“.

Auch mit der taz hatte Albertz so seine Schwierigkeiten. Ein Cartoon in der Weihnachtsausgabe von 1988, in dem das Jesuskind in der Krippe Nägel und einen Tragegurt für das Kreuz geschenkt bekam, war Grund für den Theologen, sein Abo zu kündigen. Selbst für die taz gebe es verbindliche Werte und Traditionen. Er fühlte sich an den Tenor der Nazi-Zeitung Stürmer erinnert; der Cartoon sei „eine Mischung von Pornographie und blankem Haß gegen Jesus von Nazareth und seine Mutter – übrigens beide Juden“.

Seine Gedanken über Altwerden und Sterben schrieb Albertz 1988 in seinem Buch „Am Ende des Weges. Nachdenken über das Altern“ nieder. Der bewußte Umzug ins Altenheim, für das er „fast ein Werbeprospekt“ geschrieben hatte, war für ihn im Gegensatz zu den abgeschobenen Alten ein Vorteil: kurze Wege, Service, Menschen mit gleichen Erfahrungen des Alterns und die Nähe des Pflegepersonals – und außerdem fühlte er sich, wie er selbstkritisch schrieb, nicht als „wirklich Alter“ – bis er stürzte und am Stock gehen mußte.

Das rechtzeitige Einstellen auf den letzten Lebensabschnitt, so wollte es Albertz, sollte schon in jungen Jahren beginnen. Heinrich Albertz jedenfalls war schon lange „lebenssatt“.