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„Am liebsten vom Erdboden verschwinden“

■ In Süditalien sind trotz ansehnlicher Beschäftigungsprogramme vor allem Frauen arm

Die Zeit, in der Doriana Estino ihre Einkäufe noch für mehr als zwei Tage planen konnte, liegen schon so weit zurück, daß sie sich gar nicht mehr genau erinnern kann. „Als mein Mann noch lebte, war das so“, sagt sie. Aber sie weiß auch schon nicht mehr genau, wann der gestorben ist – so vor zehn, vielleicht schon 15 Jahren. Drei Kinder waren damals noch halbwüchsig, zwei andere schon „groß“. Aber auch sie hingen „irgendwie noch immer bei mir herum“. Einer war mal wegen Straßenraubs eingesperrt, der andere hinkt, weil er ohne Genehmigung des lokalen Camorra-Bosses von Neapel geschmuggelte Zigaretten angeboten hatte und daraufhin zusammengeschlagen wurde.

Die drei damals noch kleinen Mädchen sind inzwischen erwachsen, eine ist verheiratet. „Aber das hat auch nicht viel gebracht, jetzt lebt ihr Mann auch noch bei uns, drei Kinder haben sie bis jetzt, das vierte ist unterwegs.“ Der Mann hat gerade mal zwei Tage in der Woche Arbeit. Die ganze Familie lebt in einer dunklen Zweieinhalbzimmerwohnung im Stadtteil Secondigliano. „Manchmal würde ich am liebsten einfach vom Erdboden verschwinden“, sagt Doriana ganz ohne Pathos.

Mehrere Frauen stehen um Doriana herum, alle haben ähnliche Schicksale. Nicht immer ist der Mann tot, „aber das ist vielleicht oft noch schlimmer“, sagt hart die Nachbarin Ilda: „Seit er seine Arbeit beim Bau verloren hat und nur ich mit Putzen und Fischausfahren etwas Geld heimbringe, ist er unausstehlich. Und zum Ausgleich haut er dann die Kinder.“ Der Mann von Bettina arbeitet zwar, „aber nach Hause bringt er auch kaum etwas: Er wettet auf der Pferderennbahn, immer in der Hoffnung auf den großen Treffer.“

Obwohl seit dem Amtsantritt des Bürgermeisters Antonio Bassolino 1973 in Neapel an die zehntausend Arbeitsplätze geschaffen wurden, ist die Armut weiter gestiegen. Um die 20 Prozent der Einwohner leben an oder unter dem Existenzminimum. Einer der Gründe für die Zunahme der Armut liegt nach Ansicht des Sozialarbeiters Stefano Camozzini vor allem „in der rapiden Senkung der Löhne in allen Bereichen“. Seit die Regierung Berlusconi vor zwei Jahren das vorher geltende Kündigungsschutzgesetz „flexibilisiert“ hat, heuern und feuern vor allem die Kleinunternehmer und die Gemeindeverwaltungen des Umlands die Leute im Zwei- oder Dreimonatstakt; so zahlen sie erheblich weniger Sozialabgaben. Die damit zusätzlich auf den Markt geworfenen Leute drücken den Preis für die Arbeit: Die Löhne sinken so immer weiter.

Die Frauen, die meist auch noch Kinder zu versorgen haben, für die es keine Kindergärten gibt, kommen dabei am schlechtesten weg. „Sie können nicht allzuweit von ihrer Wohnung arbeiten, haben daher eine Heidenangst, den Job zu verlieren“, sagt Camozzini. „Sie machen alles, was man von ihnen verlangt.“ Doriana nickt, schüttelt dann aber wieder den Kopf. „Das Schlimme“, sagt sie leise, „ist doch nicht, daß man uns zu Schweinereien zwingt. Das Schlimme ist, daß wir unter solchen Bedingungen nicht mal mehr Geld verdienen können.“ Werner Raith, Neapel

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