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■ Am Sonntag wählen die Schweden – wahrscheinlich wieder die Sozialdemokraten. Denn die SAP definiert, was die kulturelle Mitte istEin Modell im Umbruch

Eine Woche bevor die SPD zurück an die Macht will, wollen die erfolgsverwöhnteren schwedischen Sozialdemokraten (SAP) diese verteidigen. Am Sonntag wählt Schweden, und Olof Palmes Erben werden wohl wieder – wenn auch mit Verlusten gegenüber der letzten Wahl – die Regierung stellen.

Dabei hat die SAP in der abgelaufenen Legislaturperiode den Wohlfahrtsstaat vergangener Tage keineswegs wiederhergestellt, wie es viele ihrer Wähler noch 1994 erhofft hatten. Zwar gab sie nach einer schmerzhaften Phase der Rotstiftpolitik dem Wahlvolk zuletzt Zuckerbrot, indem das gesparte Geld für staatliche Beschäftigungsprogramme ausgegeben wurde. Aber diese durchsichtigen Manöver reichen nicht aus als Erklärung für den Vorsprung gegenüber den bürgerlichen Parteien, zumal die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich sank.

Vielmehr ist es die SAP, die immer noch von dem Ruf profitiert, die nationale Problemlöserpartei zu sein und das Land aus jeder Krise retten zu können. Dieser Ruf nährt sich aus historischen Erfahrungen. Eine sozialdemokratisch dominierte Regierung hatte die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre einst überwunden. Die SAP schuf die Fundamente des modernen Schweden, sie prägte die Identität der Nation wie keine andere Partei. Durch ihr Konzept vom Volksheim, dem schwedischen Wohlfahrtsstaat, katapultierte sich die SAP zur staatstragenden Partei, die die nationalen Paradigmen bestimmt.

Dieser Ruf konnte indes nur erlangt werden, indem sich die SAP nicht nur als „linke“, sondern gleichzeitig immer auch als betont pragmatische Partei zu definieren pflegt – wobei dieser Pragmatismus nicht das verordnete Rezept modischer Marketingstrategien, sondern Teil der Seele der Partei ist. Genau dieser unorthodoxe Umgang mit Programmen verhilft der Partei zu einer im Regierungsgeschäft nützlichen Flexibilität.

Gern hat der politisch korrekte Schweden-Urlauber früher von der vorbildlichen Umweltpolitik, von der weltweit höchsten Frauenbeschäftigungsquote, vom engmaschigen Netz der ganztägigen staatlichen Kinderbetreuung geschwärmt. Was er aber nicht sah oder nicht sehen wollte, waren das ebenso engmaschige Netz von Atomkraftwerken, üppig ausgestattete Streitkräfte und eine Wirtschaftspolitik, die wenig Sozialromantisches hatte: Schwedens hochprofitable Exportindustrie ist im Besitz einflußreicher Familiendynastien, und daran versuchten die Sozialdemokraten nie ernsthaft zu rütteln. So furchtbar sozialdemokratisch klingt das alles nicht.

Aber genau diese vorsichtig taktierende, ambivalente Politik verhalf der SAP zur Eroberung der strukturellen Mehrheit im Lande. Und diese ist keineswegs nur elektoral, sondern gewissermaßen auch kulturell zu verstehen. Die Sozialdemokraten besetzen die kulturelle Mitte Schwedens. Die SAP ist eben nicht nur die Partei der ambitioniert linken Gesellschaftsumgestalter, sondern zugleich auch Heimat für das konservativ-kleinbürgerliche Mehrheitsmilieu. Natürlich haben sich inzwischen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen rapide geändert. Längst ist Massenarbeitslosigkeit seit der Wirtschaftskrise Anfang der Neunziger Realität, längst sind die Zeiten sozialer Wohltaten vorbei – und damit bekommt gleichzeitig das Fundament sozialdemokratischer Hegemonie Risse: das schwedische Modell.

Jetzt wachsen die ersten Generationen heran, die keinen ganzheitlichen, funktionierenden Wohlfahrtsstaat mehr kennenlernen. Sie sind die ersten, die gewissermaßen nicht sozialdemokratisch geimpft sind. Die letzten Wahlen haben dies bereits angedeutet. Die Wählerstruktur der SAP hat eine zwar nur leichte, aber konstante Schlagseite hin zu den mittleren und älteren Generationen. Entscheidend ist, daß das sozialdemokratische Jungwählerproblem kein vorübergehendes, sondern ein tiefgreifend strukturelles Problem ist. Den 18- bis 30jährigen Wählern von heute fehlt jene sozialdemokratische Grundneigung, die die Vorgängergenerationen auszeichnete und nach einer etwaigen Protestwahl gegen die SAP beim nächsten Mal stets wieder sozialdemokratisch stimmen ließ. Noch wird die relative Schwäche unter den Jungen durch die geburtenstarken älteren Jahrgänge übertüncht, die vom Volksheim geprägt worden sind und nun hoffen, daß eine sozialdemokratische Regierung sie den Wandel möglichst wenig spüren läßt. Es sind jene, die in Schweden noch die Mitte ausmachen, altersmäßig wie soziologisch. Es sind die 50jährigen Verwaltungsangestellten im mittleren öffentlichen Dienst, die die SAP wählen, und Schweden hat davon viele.

Hinzu kommt, daß den Sozialdemokraten die Opfer der Rationalisierungswellen der Neunziger nicht abhanden kamen. Sie, die Modernisierungsverlierer, sind weiterhin in das sozialdemokratische Organisationsnetz eingebunden: Die große Mehrheit bleibt ihrer Gewerkschaft treu, nicht zuletzt, weil die Arbeitslosenkasse von den Gewerkschaften verwaltet wird. Und der Arbeitergewerkschaftsbund LO, der größte nationale Interessenverband überhaupt, ist ganz offiziell mit der SAP verknüpft. Rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Formationen wie in Österreich oder Frankreich haben so vorerst keine Chance, weil sie keinen Zugang zu ihren potentiellen Wählern haben.

Auch jene Modernisierungsverlierer, die sich doch von den Sozialdemokraten abwenden, bleiben innerhalb des Koordinatensytems der etablierten Linken. Sie wählen die Linkspartei, die ehemalige Kommunistische Partei, die seit 75 Jahren Bestandteil des schwedischen Parteiensystems ist. Im Parlament ist die Linkspartei im Zweifelsfall aber immer der treue Bundesgenosse der Sozialdemokraten, um bürgerliche Mehrheiten zu verhindern.

Überdies bietet die Linkspartei mit ihrer phantasielosen, ja biederen Bewahrungsrhetorik kaum echte Alternativen für enttäuschte sozialdemokratische Wähler. Deshalb steht die SAP noch relativ gut da. Sie profitiert von den noch entscheidenden Wählerschichten. Das wird ihr mittelfristig die dominante Stellung im Parteiensystem weiter sichern. Die nachwachsenden Generationen indes werden kein Garant mehr für hohe Siege sein. Diese werden sich unabhängiger auf dem Parteienmarkt bewegen; verloren sind sie für die SAP deshalb noch nicht. Die Sozialdemokraten müssen sich nur einer ernster zu nehmenden Konkurrenz stellen. Automatische Siege wird es für sie dann nicht mehr geben. Gunnar Hinck

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