: Am Anfang war die Libido
■ Zeichnungen und Graphiken von Roland Topor in der tip-Galerie
Wer würde angesichts der Zeichnungen des Cartoonisten Roland Topor nicht an das berühmte Kanzlerwort gemahnt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt!“ Doch für Topor zählt nicht nur das Was, ihn beschäftigt auch das Wie. In seiner „art de toilette“, zu deutsch „Kunst des Stuhlgangs“, führt er 36 Variationen desselben vor, „objets trouves“ sozusagen, die den Vergleich mit Lichtenbergs berühmtem Fragment von Schwänzen (von vieldeutigen Perückenschwänzchen) nicht zu scheuen brauchen: „Wenn du in diesem Schwanz nicht siehest, lieber Leser, den Teufel in Sauheit (...) nicht mit den Augen riechst, als hättest du deine Nase drin, (...) und nicht zu treten scheinst in den Abstoß der Natur, (...) so mache mein Buch zu: so bist du für Physiognomik verloren.“
Physiognomik der unteren Hälfte, das ist, grob gesprochen, Topors zeichnerische Disziplin: Hinterteile im Gesicht, Gesichter auf Pobacken, gehörnte Teufelchen im Schoß, Schambärte und Schamlippen, Urdarm und Urmund - der Zeichner kopuliert und kombiniert, travestiert und transplantiert Organe und erogene Zonen wie Freud am ersten Schöpfungstag. Am Anfang war die Libido. Ob oral, anal, prä- und aftergenital, in Topors Paradiesgärtlein der Lüste wird alles bewirtschaftet, wenn auch reichlich überdüngt, wie mir scheint. Turmhoch wachsen Stalagmiten aus Kotsäulen empor, als Vorläufer des Penis natürlich, der psychoanalytischen Kabbalistik getreu. Die Glieder selbst sind dann bei Topor gigantische Röhren, die ihrem Träger buchstäblich zu Kopfe steigen, penetrante Dildos, die sich bis zum Jägerhütchen der hockenden Nackten hindurchbohren. Oder in einem so verschuldeten Alptraum als glühende Materie auf dem Amboß landen und vom Schmied mit der Zange gezwackt werden. Die Stellung ist nicht bequem lautet mit gleichem Recht der Titel einer anderen Kastrationshalluzination: Wir sehen ein kleines Pinocchio -Männlein mit nacktem Steiß, das mit den Brustwarzen einer lasziv und unerschwinglich über ihm schwebenden Riesendame über zwei Nabelschnüre steckkontaktlich verbunden ist.
„It's childish“, sie seien kindisch, kommentiert Topor selbst seine Zeichnungen. Ja, wenn er es sagt ... Und doch: Abgesehen von seiner guten altmeisterlichen Zeichenkunst, dem Kinderbuchcharme der Pastellfarben und idyllischen Kreuzschraffuren, hat er nicht recht? Hat Sexualität nicht überhaupt eine Neigung zum Kindischen, einschließlich des Geredes, des babylonischen Kauderwelschs darüber? Welches Arkadien einer befreiten Sexualität bescherte uns doch die „sexuelle Revolution“: den Handschellensex, die Biosphäre der Pornokinos, Erika Bergers fromm-verschränkte Beine und all die übrigen diplomierten Trickdiebe in den Beratungszimmern. Nein, Sexualität und Freiheit, das geht nun einmal eo ipso nicht zusammen, da paßt alles vorne und hinten nicht, ist irgendwie unstimmig wie der ganze fabel-hafte Mensch. Topor demonstriert dies in der satirischen Nachfolge Grandvilles auf grazile und geistvolle Weise in seinem Marquis-de-Sade-Film, einer Hommage an diesen Heros der Surrealisten, der für die sexuellen Freiheiten, die er sich herausnahm, mit 27 Jahren Gefängnis bezahlte.
Da sitzt er nun im Kerker, der Marquis, ein milde resignierter Melancholikus mit Hundemaske, und plaudert denn er ist nicht allein - mit seinem Alter ego, seinem Geschlecht, das zu diesem Zweck aus seinem Hosenetui schlüpft bis etwa in Augenhöhe des Marquis, so daß sich vis -a-vis gut plaudern läßt. Der kindliche, ebenso melancholische Gefährte will selten, was die obere Hälfte des Marquis möchte, er quengelt und drängelt, doch man einigt sich meist in gütlichen Vergleichen. Nur von außen wird dieser siamesische Zwillingsbund gestört, durch die Intrigen und Gemeinheiten des Wärters, einer Ratte, des Anklägers, eines Gockels und des Kamels von Pfaffen; Figuren, die zur philosophischen Besinnlichkeit nicht fähig sind. Welch ausdrucksvolle Maskerade, welch marionettenhafte Grazie der Bewegungen bei selbst obszönen Verrichtungen. Dieser charmante und schalkhafte Film, der an geschlechtlichen Ridiculitäten nichts vermissen läßt und an Deutlichkeit, vor allem aber an Natürlichkeit jeden Porno übertrumpft, schafft es irgendwie, über das Zwerchfell unser trostbedürftiges Gemüt zu erreichen. Was die Hauptfigur betrifft, so dürfte dieser hübsche Film wohl das beste und gutmütigste Mißverständnis sein, das dem Marquis de Sade je widerfahren konnte.
Gabriele Killert
Roland Topor in der Galerie am Chamissoplatz, Chamissoplatz 6, Berlin 61; Di. bis So. von 14 bis 19 Uhr.
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