genomforschung: Altes Schauspiel, neu inszeniert
Manche Stücke haben lange Laufzeiten, einige werden nie vom Spielplan genommen. Im ewigen Menschheitstheater wird ein Schauspiel fortwährend gegeben: Was ist der Mensch? In den letzten Jahren haben Naturwissenschaftler die Regie übernommen, wenn es um die Neuinszenierung dieses Stücks geht.
Kommentarvon WERNER BARTENS
Zurzeit in den Hauptrollen: Francis Collins, Kopf des Human Genome Project (HGP), sowie Craig Venter, der mit seiner Firma Celera Genomics die HGP-Zeitpläne der Erbgutvermessung gestört hat. Gestern hatten die beiden ihren Auftritt: Sie stellten die Rohversion des menschlichen Erbguts vor. Überraschendster Befund: Das menschliche Erbgut besteht nicht aus etwa 100.000, sondern nur aus 30.000 bis 40.000 Genen. Das ist so bedeutend wie die Frage, ob bei „Ben Hur“ 30.000 oder 100.000 Statisten mitgespielt haben. Und außerdem: War da nicht was? Letzten Sommer wurde mit großem Brimborium die „fast vollständige Entschlüsselung“ des Erbguts durch HGP und Celera verkündet. Die PR-Abteilungen beider Organisationen haben ganze Arbeit geleistet. Wieder ist ihnen eine Premierenfeier gelungen, obwohl nur die Wiederkehr des Gleichen gegeben wird. Bis auf ein Detail: Vergangenes Jahr wurde das Erbgut entziffert, dieses Jahr entschlüsselt. Nächstes Jahr wird es vermutlich entzaubert.
Denn was folgt schon aus einer Kartierung der Gene? Angenommen, man findet ein Gen und kann seine Funktion bestimmen. Vielleicht ist es an der Entstehung von Krebs beteiligt. Ist es das einzige Gen, das zur Erkrankung führt? Führen alle Veränderungen des Gens zu der Krankheit oder nur bestimmte? Fragen über Fragen. Trotzdem feiert die Welt die Entzifferung des Erbguts als Meilenstein der Wissenschaft.
Den Genforschern kann man zu ihrer Öffentlichkeitsarbeit gratulieren. Sie haben die Genvermessung in größtmöglichen Dimensionen geschildert: Dabei ist es egal, dass die entzifferte Erbfolge in etwa die Präzision einer 1.000 Jahre alten Landkarte aufweist. Man erkennt die Umrisse der Kontinente und kann ein paar Berge und Flüsse einzeichnen. Daraus auf die Befindlichkeit der Bewohner schließen zu wollen ist vermessen. Dennoch schlagen viele Wissenschaftler in ihrer Anpreisung der Erbgutkartierung den Bogen zur Therapie. Aussichten auf Heilung verkaufen sich eben am besten als Heilslehren.
Der Autor ist Redakteur der Badischen Zeitung
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