Alternative Immobliennutzung: Die Hauswächter
In Reinickendorf bewohnen 16 Menschen eine ehemalige Schule - um sie vor Vandalismus zu schützen
Die ehemalige französische Schule in Reinickendorf scheint verlassen zu sein. Die Netze der Basketballkörbe auf dem Hof sind zerrissen, auf dem Boden verblassen die Linien des Himmel-und-Hölle-Spielfelds, die Pausenuhr über dem Eingang zeigt stoisch Viertel vor zwei. Ganz leer ist die Schule aber nicht: Am Eingangstor hängt ein Schild mit roten Lettern: „Bewacht durch Bewohnung“.
Dirk Rahn vom Unternehmen Camelot, das die Schule an Bewohner vermietet, führt mit flottem Schritt in Richtung der Naturwissenschaftsräume und spielt dabei mit einem beeindruckenden Schlüsselbund. Am anderen Ende des Gebäudes angekommen, klopft Rahn energisch an die Tür eines ehemaligen Klassenzimmers. „Camelot!“, ruft er.
Keine fünf Sekunden später öffnet Sebastian Weber die Tür und präsentiert sein Reich. „Ich bin erst seit fünf Wochen hier“, sagt der 26 Jahre alte Mediengestalter. „Als ich bei meinem Onkel in der Nähe zu Besuch war, habe ich gesehen, dass noch etwas frei ist.“ Sein Zimmer ist groß, Licht durchflutet den Raum. Vor der alten Tafel stehen eine blaue Couch und ein Schreibtisch, den Weber aus seiner Neuköllner Wohnung mitgebracht hat. Er hat ein Mischpult darauf gestellt: Er macht leidenschaftlich elektronische Musik. „Meine Freunde konnten sich erst nicht vorstellen, dass ich in eine Schule ziehe. Später waren sie begeistert“, sagt Weber: Die Miete von 175 Euro monatlich sei unschlagbar.
23.000 Quadratmeter
Die französische Schule, das Collège Voltaire, ist im Sommer vergangenen Jahres nach Tiergarten gezogen. Seitdem wird das knapp 23.000 Quadratmeter große Gelände vom Unternehmen Camelot im Auftrag des landeseigenen Liegenschaftsfonds verwaltet, der derzeit einen Käufer für die Schule sucht. Im November zogen die ersten Bewohner in das Gebäude ein: sogenannte „Hauswächter“, wie die Mieter bei dem Unternehmen heißen.
Die Idee, leer stehende Häuser durch Bewohner vor Vandalismus zu schützen, kommt aus den Niederlanden. Dort darf jedes Gebäude, das länger als ein Jahr leer steht, legal besetzt werden – was sogenannte Kraaker auch gern in Anspruch nehmen. Dadurch soll der Wert von Immobilien möglichst lange erhalten bleiben. Ein Deal, der sich für beide Seiten rechnet. Daraus wiederum entsprang die Idee, mit diesem Geschäftsmodell Geld zu verdienen.
Das Unternehmen Camelot wurde 1993 in den Niederlanden gegründet, heute ist es in sechs europäischen Ländern aktiv und vermietet Immobilien an rund 10.000 Hauswächter. 16 von ihnen wohnen derzeit in den Räumen in Reinickendorf, die früher mal eine Aula, ein Klassenzimmer oder auch ein Kindergarten waren.
Dirk Rahn, der braungebrannte Sprecher von Camelot, ist überzeugt von dem Konzept. „Bereits zwei Wochen nachdem die Schule hier raus war, gab es die ersten Vandalismusschäden“, sagt Rahn. Seitdem Leute hier wohnen, passiere das nicht mehr. Die Hauptaufgabe der Wächter: Sie schützen das Gebäude durch ihre Anwesenheit vor Vandalismus und Verfall. Und die wichtigste Eigenschaft: „Hauswächter müssen sehr flexibel sein, denn es kann schon morgen heißen: Es gibt einen neuen Verwendungszweck, ihr müsst ausziehen“, sagt Rahn. Dann gibt es nur eine Frist von vier Wochen.
Die Bewohner müssen sich aber auch penibel an eine Hausordnung halten. Schilder, die auf dem ganzen Gelände verteilt sind, erinnern an die Regeln: Rauchverbot in den Räumen, keine Haustiere, keine großen Partys. Wer länger als drei Tage weg ist, muss sich außerdem abmelden – wer das nicht tut, bekommt Ärger mit Dirk Rahn. „Ich komme ein- bis zweimal im Monat vorbei und kontrolliere das“, sagt er streng. Bei einem Verstoß gibt es eine Verwarnung und ein Bußgeld von 30 Euro. Nach zwei vergeblichen Aufforderungen folgt die Kündigung. Bußgelder gebe es öfters, sagt Rahn.
Anja Wilfling hat noch keines bekommen: „Ich bin von Natur aus ein ordentlicher Mensch“, sagt die 32-Jährige. Ihr Zimmer, in dem Kinder früher Mittagsschlaf gehalten haben, wirkt wie eine Bestätigung für das Gesagte: Nichts liegt auf dem Boden herum, das Bett, das sie mit Schränken vom übrigen Raum abgetrennt hat, ist gemacht. Die angehende Juristin war Anfang November mit die Erste, die einzog. Sie erfuhr durch eine Fernsehreportage von dem Konzept und bewarb sich. „Das würde ich jederzeit wieder machen, denn es ist einmalig“, sagt die blonde Frau. Sie schätze das interessante Gebäude und erinnere sich gern an die kleinen Betten, die bei ihrem Einzug noch hier standen.
Das Zusammenleben mit den anderen Bewohnern, sagt sie, sei durchaus gesellig. Ab und zu werde abends mal ein Bierchen getrunken: „Es ist fast wie eine WG – nur dass man nicht ständig aufeinanderhockt.“ Doch das Zusammenleben kann schnell vorbei sein. „Es gibt mehrere Interessenten für das Gelände“, berichtet Rahn. Eine Schule werde hier aber nicht wieder einziehen. „Es wäre schade, wenn ich hier rausmüsste“, sagt Wilfling. Aber die „guten“ Hauswächter, die sich an die Regeln halten, werde Camelot mitnehmen, hofft sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Jette Nietzard gibt sich kämpferisch
„Die Grüne Jugend wird auf die Barrikaden gehen“
Gründe für das Aus der SPD-Kanzler
Warum Scholz scheiterte