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Als der Krieg vorbei war...

Frankreichs ältester Gefangener, Victor Dojlida - der Partisan, der nicht an die „Stunde Null“ glauben wollte -, wurde gestern nach 40 Jahren Haft entlassen / Sein Kampf galt den Kollaborateuren, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Amt und Würden blieben  ■  Aus Paris Alexander Smoltczyk

„Gestern um sieben Uhr früh wurde Victor Dojlida, Frankreichs ältester Gefangener, nach 40 Jahren Haft freigelassen“ - eine Nachricht für die Rubrik Vermischtes. Vier Zeilen, hinter denen eine Geschichte steckt. Die Geschichte eines Widerstandskämpfers, für den es die „Stunde Null“ nie ge geben hat.

Victor Dojlida wurde 1926 in Nowosiolski geboren, einem ostpolnischen Städtchen, in dem die meisten Bewohner nur russisch sprachen. Wie viele zog die Familie 1929 zu den Kohlerevieren im Westen. Die Dojlidas ließen sich im lothringischen Homecourt nieder, wo der Ruß der Hochöfen in jeder Ritze saß. 1940 besetzen die Deutschen Elsaß -Lothringen; Homecourt wird Grenzstadt. Victor Dojlida beginnt, Waren über die Grenze zu schmuggeln, später Gefangene. Während sich die Stahlbarone von Homecourt mit den Besatzern arrangieren, schließt sich der Fünfzehnjährige dem Widerstand an: den legendären FTP-MOI (Freischärler -Partisanen und Arbeitsimmigranten). Dojlida wird es sein, der die Stromzentrale von Nancy in die Luft sprengt.

1944, der Krieg ist für Frankreich fast vorbei, fliegt die Partisaneneinheit auf. Die französische Polizei liefert Victor Dojlida, der immer noch die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, an die Deutschen aus. Das wird er den französischen Kollaborateuren nie vergessen.

Deportation in die Konzentra tionslager Natzweiler, Dachau, Ordruff und Buchenwald. Am 28.April 1945 kehrt Victor Dojlida nach Homecourt zurück. Zwei Wochen später fährt er nach Nancy zu dem Büro des Richters Chiny und - schlägt ihn zusammen. Weshalb? Chiny war es gewesen, der den Deutschen die Akte Dojlida übergeben hatte. „Als ich zurückkam und sah, daß die ganze brave Welt noch in Amt und Würden war, habe ich es einfach nicht ertragen.“ Wenig später trifft Dojlida auch den braven Gendarmen Reuter wieder, mit dem er unter der Besatzung zu tun hatte. Auch Reuters Karriere kannte keine „Stunde Null“. Einen Monat Gefängnis und 2.000 Francs Geldstrafe wegen Beamtenbeleidigung für Victor Dojlida, der nicht vergessen kann. Woher das Geld nehmen? Dojlida überfällt einen Kiosk im Nachbarort, dessen Inhaber kollaboriert haben soll. Er wird festgenommen, entkommt und steht am 10.Januar 1947 mit einer Pistole in der Hand im Zahlbüro des größten Kollaborateurs der ganzen Region, den Marine-Stahlschmieden von Homecourt. Dojlida wird vom Gericht in Nancy zu insgesamt 35 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er ist 21 Jahre alt.

1960 begnadigt die Republik ihren Gefangenen, möglicherweise auf Initiative des Justizministers Edmond Michelet, der Dojlida schon in Dachau vor den Kälteexperimenten der KZ-Ärzte gerettet hatte. Zwei Jahre später wird er wieder verurteilt - wegen zwei Raubüberfällen, die begangen zu haben er immer bestreiten wird. Er war zu dem Zeitpunkt irgendwo in Afrika, um eine Rechnung mit einem ehemaligen SS-Offizier zu begleichen. Aber das sagt er erst dreißig Jahre später. Zwanzig Jahre ohne Bewährung. „Ich weiß, was Sie meinem Kollegen Chiny angetan haben“, sagt der Richter in der Verhandlung.

Als 1974 die überfüllten Gefängnisse in Frankreich zu brodeln beginnen, ist Dojlida ganz vorne dabei. Er versucht aus der Anstalt Metz zu entkommen, verletzt dabei einen Wärter. 20 weitere Jahre Knast für Victor Dojlida.

Seit Anfang der achtziger Jahre hat sich die Vereinigung der Verfolgten und Widerstandskämpfer FNDIRP für die Begnadigung ihres ehemaligen Kampfgefährten eingesetzt. Doch trotz der Intervention von Marcel Paul, dem kommunistischen Minister der ersten Nachkriegsregierung, wird es August 1989 werden, bis die Republik Victor Dojlida die Reststrafe erläßt. Paris feierte gerade den 45. Jahrestag der Befreiung der Stadt. Die „Liberation“ des Victor Dojlida, für den der Krieg nicht rechtzeitig endete, hat etwas länger gedauert. 40 Jahre. Vierzig. Gestern kehrte er nach Homecourt zurück, wo seine Mutter noch lebt und wo nach der Schließung der Hütten längst kein Ruß mehr in den Ritzen steckt: „Was für eine verfluchte Farce, das Leben.“

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