Als Jäger noch Sammler waren: Gefiederte Vergangenheiten
Vom Hochrad auf den Hochsitz: Richard Nagel war – in gewisser Weise – ein Pionier der Bremer Umweltbewegung. Nun ist sein Nachlass endlich im Bremer Staatsarchiv angekommen.
Ein Bart, auf den Kaiser Wilhelm hätte neidisch sein können, eine Strecke erlegten Wildes, die in dieselbe Kerbe schlägt. So präsentiert sich der Bremer Kaffeekaufmann Richard Nagel auf seinen Selbstporträts, die ihn um 1900 herum beim Jagen zeigen. Die Hände immer am Drücker – was freilich auch für den des Fotoapparats galt: So entstand ein naturkundliches Oeuvre, das jetzt in den Besitz des Staatsarchivs übergegangen ist. Dessen Direktor Konrad Elmshäuser bezeichnet es als „seltenen Bilderschatz“, der zahlreiche natur- und heimatkundliche Einmaligkeiten enthalte.
Da Nagel im Lauf der Jahrzehnte Jagden in ganz Nordwestdeutschland bis hinauf nach Wangerooge pachtete, weist sein Werk weit über den Bremer Rahmen hinaus. Der hauptsächliche Wert seiner Sammlung besteht darin, dass er äußerst akribisch die heimische Vogelwelt zwischen 1872 und 1935 dokumentiert – in Landschaften, die es so zum großen Teil gar nicht mehr gibt. Auf den großformatigen Bildern ist eine Region zu sehen, die stärker durch wechselnde Wasserstände als durch die Landwirtschaft geprägt zu sein scheint.
Der Bremer Ornithologe Joachim Seitz ist ganz begeistert von den natürlichen Flussläufen mit Flach- und Steilufern, die in Dutzenden von Alben zu betrachten sind, von den Sandinseln und weiträumigen Heide- und Moorlandschaften, in die Nagel die jeweils dort beobachteten Vögel hinein gemalt hat. „Ohne Nagels Werk“, sagt Seitz, „wüssten wir gar nicht, wie die Lebensräume vieler heimischer Vögel ganz konkret aussahen.“ Seitz hat Nagels Oeuvre bei dessen Nachfahren in Bremen-Nord entdeckt und die Schenkung an das Staatsarchiv vermittelt.
Sein Geld verdiente Nagel durch den Handel mit Hochrädern, er war einer der ersten Bremer Zweirad-Anbieter, später durch Kaffeeimport. Im Übrigen war er Autodidakt in jeder Hinsicht. Mit der akademischen Fachwelt hatte er sehr wenig am Hut, nie studierte er irgendetwas Naturkundliches. Er brachte sich das Malen und Fotografieren bei, sogar die dabei verwendete Plattenkamera stammte aus eigener Herstellung.
Selbst erdacht ist auch Nagels spezielle Art, die Natur zu dokumentieren: Die Fotoabzüge aus seiner Dunkelkammer nutzte er als gestalterische Grundlage, in die hinein er die Tierwelt malte. Durch die Alben und über die Jahrzehnte ist zu verfolgen, wie sein Pinselstrich immer feiner wird, bis Nagel eine quasi fotorealistische Genauigkeit zuwege bringt. Kunst als solche interessierte ihn dabei offenbar nicht, oberstes Gebot war ihm die Genauigkeit. Und da er viele der beobachteten Tiere anschließend schoss, konnte er sie um so penibler zu Hause abmalen.
Dabei muss angemerkt werden, dass Nagel rein fotografisch – angesichts langer Belichtungszeiten – wohl kaum eine Chance gehabt hätte, Vögel erkennbar darzustellen. Wenn Nagel seine Fotografien mit dem Pinsel nachbearbeitete ging es also beileibe nicht nur um Kolorierung. Die entscheidenden Akteure waren viel zu schnell für die Kamera und mussten nachträglich in die Szenerie gemalt werden, wodurch fast so etwas wie 3D-Effekte entstanden. Auch der Jagdhund, der wahrscheinlich nie lange still stand, schaffte es nur per Pinselstrich in die Bilder.
Nagels Sohn, der die Aufzeichnungen und Bilder erbte, teilte die Jagdbegeisterung seines Vaters keineswegs. „Ihm war es eher peinlich, wenn in den Alben so etwas stand wie: ,Hier sieht man den letzten Wiedehopf, ich habe ihn geschossen‘“, erzählt Ilse Gottwald. Die 84-Jährige ist wiederum die Tochter dieses Sohnes. Dass die Familie das Werk des Großvaters bislang eher im privaten Rahmen beließ, lag wohl auch an solchen Ambivalenzen.
Dabei ist die wissenschaftliche Bedeutung von Nagels akribischen Dokumentationen enorm: Unter den beschriebenen Arten sind viele Bremer Letztnennungen, etwa der Schwarzstorch oder der Kampfläufer, eine Schnepfenvogelart. Nagel konnte an der Geeste südlich von Bremerhaven noch ein brütendes Schreiadler-Paar beobachten (das er in Ruhe ließ). Die Pelikane, die Nagel 1876 bei Habenhausen beobachtete, waren schon damals eine Besonderheit. Seit 1906 ist diese Landschaft durch den Bau des ersten Weserwehrs ohnehin grundlegend verändert. „Birkhühner gibt es in der Bremer Umgebung schon seit 100 Jahren nicht mehr“, sagt Seitz. Auch die Goldregenpfeifer, die Nagel in der Nähe von Rotenburg dokumentierte, seien dort seit einem Jahrhundert verschwunden. In summa gelte für Nagels Werk: „Wir haben nichts Vergleichbares.“
Wie steht es mit etwaigen Schnittmengen zwischen Nagels Natur- und Heimatelan und der NS-Umwelt? Anknüpfungspunkte hätte es genügend gegeben. Zahlreiche regionale Gesetze zur Deklaration von Naturschutzgebieten datieren aus der zweiten Hälfte der 30er Jahre. 1937 erließ Bremen eine eigene „Verordnung über die wissenschaftlichen Vogelberingung“, die bis 2004 Bestand hatte.
Andererseits wurden durch das NS-Regime viele infrastrukturelle Maßnahmen forciert, die bis dahin überwiegend naturbelassene norddeutsche Landschaften stark veränderten oder sogar zerstörten. Nagel empörte sich beispielsweise über die Trockenlegungen der Moore, durch die Flora und Fauna verarmten, auch die landwirtschaftliche Nutzung der Heidelandschaften weckte seinen Widerwillen. Und Hitlers Autobahnen waren ihm – aus Landschaftsschutzgründen – ohnehin eine Gräuel. Nachdem 1936 bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen der Ornithologischen Gesellschaft eine lange Eloge auf den Führer gehalten wurde, kehrte Nagel der honorigen Vereinigung den Rücken.
„Die Vermischung von Wissenschaft und Politik war für ihn nicht tragbar“, sagt Seitz. Nagel selbst bezeichnet eine solche „Verquickung“ in seinem Tagebuch als „Hohn auf die Ornithologie“. „Er war ein Gegner der Nazis“, meint Seitz, was auch für viele andere Bremer Ornithologen gegolten habe. Wobei Nagel konkret wohl eher als Eigenbrötler denn als Widerständler in Erscheinung trat.
In Nachlass-politischer Hinsicht war Nagels Gradlinigkeit jedenfalls ein Glücksfall. Er verwahrte sich gegen die Bemühungen der Ornithologischen Gesellschaft, den Nachlass für Berlin zu sichern. Denn obwohl Nagel als reiner Feldornithologe mit der Welt der Museumswissenschaftler, die fast ausschließlich mit bestehenden Sammlungen arbeiteten, wenig Gemeinsamkeiten hatte: Den von ihm düpierten Akademikern war durchaus bewusst, welche Werte Nagel zusammengetragen hatte. Doch als dieser 1941 starb, blieben seine umfangreichen Bestände in Familienhand und wurden nur noch privat rezipiert.
„Das waren eben unsere Bilderbücher“, erinnert sich Ilse Gottwald. Das Werk-Bewusstsein war dabei allerdings doch so ausgeprägt, dass die Bilder und Dokumentationsbände nicht verteilt wurden, sondern bei jeweils einem Familienzweig blieben. „Das wurde bewundernswert zusammengehalten“, sagt Staatsarchiv-Direktor Elmshäuser.
Nagels naturkundliche Begeisterung, auch sein unbeirrbares Durchhaltevermögen, haben offenbar familiäre Quellen. Nagels Vater war ein prominenter Bremer Pastor, der vor allem für seinen beharrlichen Einsatz gegen die starre kirchliche Dogmatik bekannt wurde: Er forcierte eine Theologie, die die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in ihre Lehre explizit einbezog. Nach einer 1844 in Bremen durchgeführten Naturforscher-Versammlung eskalierte der Streit zwischen Nagel senior und dessen orthodoxen Amtskollegen zu einem handfesten Kirchenkampf – nur ein Machtwort von Bürgermeister Smidt verhinderte Nagels Absetzung und Suspendierung. „Wer eine Geschichte des geistigen Bremens schreiben will“, resümierte die 1912 erschienene „Bremische Biographie des 19. Jahrhunderts“, könne an Nagel, „diesem Markstein des bremischen Liberalismus, nicht vorübergehen“.
Von diesem Vater bekam Nagel junior allerdings nicht nur die Begeisterung für exakte Naturbeobachtung mit, sondern, als Siebenjähriger, auch ein spezielles Instrument der Naturerkundung: seine erste Armbrust.
„Für meine Großmutter“, erinnert sich Gottwald, „war es ein Riesenproblem, immer das viele Wild im Haus zu haben.“ Und das, ohne irgendeine Art von Kühlschrank zu besitzen. Das war die eine Seite. Die Senatspressestelle fokussiert sich in ihrer Mitteilung über die Werk-Schenkung auf den anderen Aspekt: „So entstand ein künstlerisch einmaliges Kataster der Vogelwelt Bremens und Nordwestdeutschlands.“ In digitalisierter Form ist es demnächst im Staatsarchiv einzusehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!