■ Arbeitsmarktbericht 1995: Almosen vom Staat
Rund 100.000 Berlinerinnen und Berliner hingen im vergangenen Jahr am arbeitsmarktpolitischen Tropf des Landes und des Bundes. Ein neuer Rekord in einer Stadt, die unter einer beispiellosen Industrieabwanderung und -vernichtung leidet, wie sonst nur strukturschwache Regionen in Ostfriesland oder dem Bayerischen Wald. Während in Berlin in den letzten Monaten über Sparprogramme debattiert und entschieden wird, verpflichtet die Realität auf dem Arbeitsmarkt das Land genau zum entgegengesetzten Weg. Denn wer den sozialen Frieden in der Stadt bewahren will, muß notgedrungen zum größten Arbeitgeber werden.
Schließlich entwickeln sich die Arbeitsmarktprogramme, einst als Überbrückungshilfe für bessere Zeiten gedacht, für viele Menschen zu Daueralmosen. Weil die private Wirtschaft keinen ausreichenden Ausgleich schafft, nehmen die Arbeitslosen die Politik immer mehr in die Pflicht. Noch vor den im Sommer anstehenden Verhandlungen über den Haushalt 1997 wird so der Spielraum der Großen Koalition deutlich eingegrenzt. Bei aller Notwendigkeit zum Sparen und zu strikter Haushaltsdisziplin darf es bei den Arbeitsmarktförderungen zu keinen weiteren Kürzungen kommen. Während dieser Kürzungsstopp im Osten selbstverständlich ist, müßte im Westteil das Programm für den zweiten Arbeitsmarkt sogar ausgeweitet werden. Solange sich auch nicht ansatzweise die vom Senat erhofften Konturen einer „Dienstleistungs- und Innovationsmetropole“ abzeichnen, ist die öffentliche Hand gezwungen einzugreifen. Das ist – Ironie der Geschichte – die unter dem Zwang der Realitäten geborene Rückkehr zur klassischen sozialdemokratischen Regulierungspolitik. Severin Weiland
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