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Alltag 1945

Am S-Bahnhof Friedrichstraße tönt eine heisere Stimme aus dem Lautsprecher: »Alles aussteigen! Bitte beeilen, der Zug fährt sofort wieder zurück!«

Martin hastet mit den anderen die Treppen hinunter. Auf der Straße aber, direkt unter der Unterführung, bleibt er wie angewurzelt stehen: An den Gitterstäben vor einem Schaufenster baumeln zwei Gestalten — aufgehängte Soldaten. Sie tragen keine Feldbluse mehr, aber der eine ist an der hellen Borte der Feldmütze als Offizier zu erkennen. Er muß noch ziemlich jung gewesen sein, denn um den offenen Mund, aus dem die bläuliche Zunge hängt, sprossen die dünnen blonden Haare eines ersten Bartes. Der andere ist älter und trägt einen völlig verstopften Pullover. Sein Gesicht ist verzerrt und der Kopf nach der Seite gerückt, als wollte er im letzten Augenblick noch dem dicken Knoten im Genick ausweichen. Die Fußspitzen der beiden hängen nur wenige Zentimeter über dem Boden.

Neben ihnen hängt ein großes, mit groben Pinselstrichen gemaltes Schild: »Wir wurden aufgehängt, weil wir unser Sturmgeschütz nicht so in Ordnung hielten, wie der Führer befahl.«

Aus: Wolfgang Wilhelm Parth: Die letzten Tage. Aufbau-Verlag, Berlin 1946.

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