Alltäglicher Irrsinn

„No Sex!“ – Heute feiert die zeitkritische Boulevard-Komödie von Peter Lund im Kama-Theater ihre Uraufführung. Ein verregneter und dennoch nicht trockener Probenbericht  ■ Von Klaudia Brunst

Irgendwo im tiefsten Neukölln. Ein Hinterhof, dann ein zweiter – kaum zu erreichen. Tiefe Pfützen versperren den Weg. Die vier Bauarbeiter in wasserdichten Gummianzügen lassen es in der Hobrechtstraße 21 munter regnen. Sanierungsarbeiten, das Haus wird gerade hauptstadtgerecht angehübscht. „Sie wollen sicher zu den Künstlern da oben“, deutet einer mit dem Schlauch nach hinten rechts, man hört die Akkorde des Pianos deutlich bis hier unten.

Ganz oben im fünften Stock liegt die kleine Probebühne des Kama-Theaters, wo Niclas Ramdohr gerade die Akkorde fürs Einsingen vorgibt. Etwas müde klingt das konzertante „Ha-ha-ha“ noch so früh am Morgen, erst die schmissige Ouvertüre, mit der der erste Durchlauf seinen Auftakt nimmt, weckt die letzten Darsteller so richtig auf. Sabine Winterfeld und Christian Schodos haben schon ihre Plätze in der improvisierten Kulisse eingenommen, aber als es losgehen soll, stehen die beiden einige Sekunden zu starr in der Dekoration. „Haben wir schon Licht?“ fragt Sabine ratlos in Richtung Regie. „Oh, Entschuldigung... Licht!“ markiert Peter Lund die fehlende Technik, und die Geschichte von Sanya, der naßforschen Türkin, und Freddy, dem schüchternen Schwulen, nimmt ihren komödiantischen Lauf.

Sanya und Freddy suchen eine Wohnung – ein schwieriges Unterfangen in der Sepkulationshauptstadt Berlin. Und weil beide die 700 DM für die anvisierte Bruchbude nicht allein aufbringen könnten, beschließen sie, ein ungleiches Paar zu werden – zumindest gegenüber der biederen Hausverwaltung. „No Sex!“ heißt das neueste Stück des jungen Theaterautors Peter Lund, der sein Stück für das Kama-Theater auch selbst inszeniert; „No Sex“ zwischen Sanya und Freddy, denen aber bereits im ersten Akt viele erotische Verwicklungen bevorstehen. Denn Sanya droht erst eine ungewollte Schwangerschaft, dann die Abschiebung in die Türkei, und Freddy steht unabänderlich vor seinem „ersten Mal“ mit Hans – und vor der längst überfälligen Ablösung von seiner 68er-Mutter, die sich weit fortschrittlicher gibt als ihr eigener Sohn. Sabine Schwarzlose, die bereits in der Piaf-Revue sehr erfolgreich die Marlene gab, und in „Vicotria/Victor“ ihr großes komödiantisches Talent unter Beweis stellte, schlüpft in die Rolle der sexuell revolutionierten Apo- Oma, die den turbulenten Ereignissen in Freddys Leben immer noch eine turbulentere Wendung hinzufügt. „Also, die Sache mit dem B-Test stimmt noch nicht ganz“, gibt sie in der Probenpause zu bedenken – jetzt regnet es draußen wirklich in Strömen –, „wenn das Ergebnis doch schon nachweislich negativ ist, wie soll Freddys Mutter dann auf die Fährte der Schwangerschaft kommen?“ Also muß der B-Test doch im Bad hinter der Bühne bleiben, nur die Packung darf Sabine auf dem Küchentisch finden. Regieassistent vermerkt den Hinweis im Regiebuch.

Zwei Wochen, viele Probentage später sind die diversen logischen Brüche beseitigt, das Bühnenbild ist fast fertig, der Text sitzt. Die junge Kama-Truppe probt jetzt auf der Hauptbühne des Kama-Theaters, und das kleine ambitionierte Ensemble hat tiefe Ränder unter den Augen und zum Teil noch die Bühnenfarbe an den Fingern. Drei Tage sind es bis zur Uraufführung, der Count-Down läuft. Es bleiben noch die Probleme mit dem Licht, dem Ton und der etwas verwirrenden Dekoration. Christian Schodos wirft einen kritischen Blick auf die Bühne und findet das Ganze nun schon viel gelungener als gestern: „Jetzt konzentrieren sich die Leute vielleicht doch auf das Stück und nicht nur zwei Stunden darauf, warum die Bühne so und nicht anders aussieht“...

Etwas Lampenfieber gehört zum Business, so ganz überzeugt vom großen Erfolg mag bisher natürlich noch niemand sein. Peter Lund hat sich mit diesem Stück auch einiges vorgenommen: „Unsere größte Angst ist, daß das Stück zu vollgestopft ist“, gibt er zu, „aber wenn man sich unsere Realität genau anguckt, dann erlebst du all das doch in zwanzig Minuten an einem einzigen Tag.“ Wohnungsnot, Ausländerpolitik, Schwulenhatz – „das ist doch der alltägliche Irrsinn“.

Genau den auf die Bühne zubringen ist durchaus Peter Lunds Ziel, und er bedient sich dabei mit Absicht und auf kenntnisreiche Weise der Boulevard-Technik. „Im Idealfall lacht man im Boulevard doch über sich selbst. Hier in Deutschland lacht man leider im klassischen Boulevard-Theater vor allem über die anderen. Aber das ist ja nicht unsere Welt, das ist „Traumschiff“. „No Sex!“ ist der Versuch, das Ganze auf unsere Niveau zu bringen.“

Also ein Generationswechsel im Unterhaltungstheater? Als Erzähltechnik interessiert den jungen Theaterautor das Boulevardfach durchaus. Das Tempo, die Geschwindigkeit, dieses besondere absurde Denken eines Billy Wilder, erscheint ihm durchaus erhaltenswert: „Ich möchte diese Technik schon gerne entleiben von diesem ganzen banalen Zeugs, mit dem es gerade in Deutschland zur Zeit noch so überfrachtet wird. Und das ist sicher gerade bei diesem Stück eine Gratwanderung...“ Besonders, weil die Probleme wirklich so alltäglich und damit den Zuschauern allzu bekannt sind.

Da könnten die Geschmacksgrenzen des Publikums schnell erreicht sein, die Ku'damm-Gänger finden „No Sex!“ vielleicht zu problembefrachtet, dem Off-Publikum könnten dagegen die Themen zu undifferenziert abgehandelt sein. Peter Lund, 27 Jahre jung und als ausgebildeter Architekt ein Autodidakt in Theaterfach, setzt auf die Komik als Ausdrucksform. Im Prinzip sei Boulevard doch – so grotesk das klingen mag – zutiefst anarchistisch: „Weil man doch über alles lacht, einfach nichts mehr ernst nimmt.“

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Musik von Niclas Ramdohr, der das Erzähltempo durch seine Songs geschickt mitsteuern kann. Mal setzen sie notwendige lyrische Ruhepole, dann wieder heizen die komödiantischen Musikeinlagen das Tempo an. „Erstaunlicherweise erreicht man gerade über die musikalische Abstraktion viel stärker die Emotionen“, meint Peter Lund, der sich mit Niclas Ramdohr zur Produktionsgemeinschaft COMP zusammengeschlossen hat. Während der Sprechszenen bebildert man häufig nur die Figuren, führt die Typen ein. Die Musikzenen reizen die Gefühle dann erst so richtig aus.“ Gerade diese Kombination findet er so „verheißungsvoll“, so ist die Problemmasse hoffentlich auch zu bewältigen.

Natürlich geht in „No Sex“ – schreckliche Welt hin oder her – am Ende alles gut aus. Das ist das unumstößliche Prinzip der Unterhaltung, und bei aller gewünschten Sozialkritik muß das auch so bleiben. „Wenn alles gutgeht, gehen die Leute nach der Premiere aus dem Stück und haben über die Liebesgeschichte vergessen, daß Freddy ein Schwuler ist“, spekuliert Peter Lund. Dann wäre doch schon etwas erreicht.

„No Sex!“: Buch und Regie: Peter Lund; Musik: Niclas Ramdohr. Mit: Sabine Winterfeld, Christian Schodos, Sabine Schwarzlose u.a. Premiere: heute abend im Kama- Theater, Schwiebusser Str.