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Alles ist möglich in Bremen

■ Reportage: „Zwischen Knast und Palast“ (21 Uhr, ZDF)

Anfangs ist er von Herzen unsympathisch. Ohne eine Miene zu verziehen, ohne einen Funken Gefühl in der Stimme erzählt Igor von den Heldentaten seiner Gang. Ein brutaler Mord an einem Autohändler. Eines Mittags überfallen zwei seiner Freunde den Mann im Büro, zwingen ihn, sich mit dem Gesicht auf den Boden zu legen, und erschießen ihn mit einer abgesägten Schrotflinte. Einfach so sind sie in das Geschäft spaziert. Weil sie einen Mercedes fahren wollten. Sie fahren immer Mercedes. Wie bei der Mafia. Zwei Schüsse setzten sie dem Mann direkt in den Kopf. „Was wollt ihr, war doch cool!?“ sagen sie bei der Vernehmung.

Polizisten, Staatsanwalt und Richter bleiben sprachlos und schicken die beiden in den Knast. Abends besucht sie Igor, dann hangelt er sich an einem Laternenmast hoch und bellt Durchhalteparolen über die Gefängnismauer. Tagsüber geht Igor, keine 20, seinen Geschäften nach. Irgendwas zwischen Drogen und organisierter Autoschieberei. Er steht nicht als einziger im Dienste des organisierten Verbrechens. Viele seiner Freunde aus dem gesellschaftlichen Niemandsland im Bremer Stadtteil Gröpelingen haben sich als Söldner bei der Mafia verdungen.

Wenn sie nicht gerade wie die Besengten durch die Gegend brettern, Trinkhallen ausrauben, Feuerchen an Polizeistationen legen oder herumdealen, treffen sie sich in einer Tiefgarage zu einer spontanen HipHop-Session: „Laßt uns zusammen Hand in Hand losschlagen gegen die Nazis.“ Nur beim Rap können sie sich gehenlassen. „Wenn wir den Rap nicht hätten“, sagt Reza, „würden wir noch mehr Geschäfte machen.“ Dann erzählt er von den dunklen Dämonen, die ihn ängstigen. Es sind die Paten, seine Arbeitgeber von der Mafia.

„Zwischen Knast und Palast“ nennen Marc Wiese und Michael Möller ihre Doppelpunkt-Reportage. Ein kriminelles Leben in der Schattenwelt wollen sie gefunden haben. Die beiden haben sich von dem starken Tobak hinreißen lassen, haben die geballte Jungrambowelt widerspruchslos abgefilmt. Kamen nicht umhin, einen eigenen Thrill einzubauen. Mit versteckter Kamera gingen sie zum Knarrenkauf. Alles ist möglich im kleinen Bremen.

Ein Ich-war-dabei-Film, mit ein bißchen Pathos ist dabei herausgekommen. Politik wurde strikt herausgehalten. Keine Frage an den sozialdemokratischen Stadtsenator, warum die Stadt das Viertel verwahrlosen läßt. Keine Fragen an die Eltern der Kids. Nur ein kurzer Schwenk über Eichentisch und Ledergarnitur. Der Film liefert viele Bilder einer Katastrophe, die leicht und unheimlich locker daherkommt. 45 Minuten mit offenem Mund über die Wirklichkeit staunen, wann ist das im TV schon zu haben? Annette Rogalla

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