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Alles Theater

Das erfolgreiche Scheitern des Projekts ästhetische Erziehung - Von Lothar Baier  ■ E S S A Y

Im Jahr der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution stehen die Deutschen ganz besonders ärmlich da und unterstreichen ihre historische Blöße nur noch, wenn sie verschämt ihre paar versprengten einheimischen Jakobiner herumzeigen. Dabei könnten sie auf eine Errungenschaft verweisen, die etwa so alt ist wie die Große Revolution und im Unterschied zu dieser außerhalb jedweder Kontroverse steht: Die Begründung öffentlicher Kulturpolitik als Beitrag zur allgemeinen Verbesserung der menschlichen Zustände.

Zwischen 1784 und 1794 brachte Friedrich Schiller die Idee zu Gehör und zu Papier, daß die kulturellen Einrichtungen, allen voran das Theater, der ästhetischen Erziehung der Bürger zu dienen hätten und nicht mehr nur der fürstlichen Selbstdarstellung. „Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier (der Schaubühne) durch die Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht“, heißt es in Schillers Rede über die Schaubühne als moralische Anstalt.

Während die zweihundert Jahre alte Revolution für beendet erklärt und in ihrem Nutzen sogar in Zweifel gezogen wird, kommt die Theorie von der moralischen Erhebung durch ästhetischen Genuß so frisch daher wie zu den Tagen Schillers. Sie hält auch die knauserigsten Rechnungsprüfer davon ab, nach dem Verhältnis von Kosten und öffentlichem Nutzen zu fragen, wenn es um kulturelle Aufwendungen geht. Seit Ende der siebziger Jahre, hat 'dpa‘ kürzlich gemeldet, haben sich die Kulturausgaben der bundesdeutschen Städte verdoppelt. Allein die Theater läßt man sich heute fast soviel kosten, wie man sich vor zehn Jahren die gesamte städtische Kultur hat kosten lassen. Und wozu das Ganze?

„Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur“, schrieb Schiller 1794 einem der damaligen Landesväter ins Stammbuch, „den Menschen... ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustande der moralische sich entwickeln kann.“ Keine Sinnkrise hat an diesem Credo rütteln können, ganz im Gegenteil, die Krise sorgt erst recht dafür, daß die Sinnsucher vermehrt bei der Kultur und ihren moralischen Anstalten fündig werden. Falls überhaupt ein Heil, wird es von dort erwartet. Die nach zweihundert Jahren überfällige Frage, ob das Projekt der ästhetischen Erziehung ihr moralisches Versprechen jemals gehalten hat oder ob es nicht eher für gescheitert erklärt werden muß, und zwar gescheitert an seiner Realisierung, geht im gepflegten Tumult der Schaubühne unter.

Barbareien hat sie gewiß nicht verhindern helfen, die in den National- und Schillertheatern gepflegte Kultur, und mit der nationalsozialistischen hat sie sogar recht gemütlich kohabitiert. Steckte ein Fehler in der ästhetisch -moralischen Konstruktion? Aber nein, sagten die entnazifizierten Kulturpädagogen, schuld war nur die viel zu exklusive Praxis. Macht die Tore der Kunsttempel auf und baut die hemmende Schwellenangst ab, und schon werden Schillers „reinere Gefühle durch die Adern des Volkes fließen.“ „Kultur für alle“ nannte sich die prosaisch sozialdemokratische Variation des Fanfarenstoßes, den der klassische „Moraltrompeter von Säckingen“ (Nietzsche) vor den Toren der Fürstenhöfe geprobt hatte. Das Programm wurde inzwischen bundesweit in die Tat umgesetzt und von anderen Industrienationen übernommen.

Sein sozialer Erfolg ist unübersehbar, noch nie kam der Mensch so „ästhetisch gemacht“ daher wie heute. Man lebt nicht mehr schnöde vor sich hin, sondern kultiviert Lebensstile, man geht nicht mehr in die Stadt, sondern partizipiert an der „städtischen Inszenierung“. Der Unterschied zwischen Zuschauer und Akteur, zwischen Auditorium und Bühne ist darin abgeschafft. Alles ist ins metropolitane Gesamtkunstwerk integriert, das noch die häßlichste Fassade ergreift und in Kulisse verwandelt. Schillers Utopie von der allgemeinen „ästhetischen Gemütsstimmung“ ist Wirklichkeit geworden, jetzt fehlt nur noch, daß sich auch die Pforten des moralischen Paradieses öffnen. Es will aber nicht so recht anbrechen, statt dessen wächst inmitten der Kultur-für-alle-Kultur eine bisher unbekannte Form ziviler Barbarei heran, für die eine Meldung der taz (1.8.89) ein frappantes Beispiel geliefert hat:

„Etwa hundert Menschen haben am Wochenende in Nijmwegen einer Schlägerei mit anschließendem Mord stürmisch applaudiert. Die NiederländerInnen dachten, sie sähen eine Straßentheateraufführung. Zwei Männer hatten in einem Straßencafe einen Streit begonnen, der damit endete, daß der eine den anderen mit fünf Schüssen niederstreckte.“

Ein fait divers, das wie kein anderes zu dieser Gegenwart paßt. Da ist nicht einfach, wie bei einem Amoklauf, das biblisch-ewige böse Trachten des Menschen zum Ausbruch gekommen. Wenn eine Menschenmenge gelegentlich dem an der Dachrinne verharrenden Lebensmüden zuruft, er solle endlich springen, während der Feuerwehrpsychologe von hinten gegen den Todeswunsch anredete, dann mag das von der Gemeinheit und Grausamkeit der menschlichen Natur Zeugen, von Wirklichkeitsverlust zeugt das Beispiel ganz bestimmt nicht. Was diesem Publikum lustvolle Befriedigung verschafft, ist das Wissen, daß der herbeigesehnte Todessturz in der Wirklichkeit stattfindet, daß aus dem lebenden Menschen jeden Augenblick wirklich ein häßlich verformtes blutiges Bündel werden kann. Der Applaus von Nijmwegen dagegen verdankt sich der Verwechslung von Wirklichkeit und theatralischer Inszenierung, er zeugt nicht von einem moralischen, sondern von einem ästhetischen Defekt, und zwar im Wortsinn verstanden: einem Ausfall der Wahrnehmungsfähigkeit. Seltsame Ironie: Der Sinn für die unterscheidende Wahrnehmung, der in der ursprünglichen Bedeutung des Worts Ästhetik bezeichnet war, schmilzt mit dem Ästhetischwerden des Alltags dahin, das alle Welt als zivilisatorischen Fortschritt bejubelt.

Schillers „ästhetische Erziehung des Menschen“ hat sich unter den Bedingungen der gegenwärtigen Lebensstil -Gesellschaft ins Gegenteil verkehrt, in das laufende Projekt lustvoller Desensibilisierung und Infantilisierung. Der klassische Bildungsroman läuft nach rückwärts, die Utopie der neuen ästhetischen Emanzipation ist das verallgemeinerte Kind, dem, wie einem Kätzchen, alle realen Gegenstände zum Spielmaterial werden. Was auch immer geschieht, ist für das alltagskulturell trainierte Auge einzig dazu bestimmt, die Schaulust an der Inszenierung zu befriedigen. Sehen und Fernsehen werden eins. Clevere amerikanische TV-Produzenten haben jüngst entdeckt, daß keine teure Krimi-Inszenierung den Unterhaltungswert der Gewaltszenen erreicht, die eine geschickte Kameraführung von der Begleitung realer Polizeieinsätze mitbringt. Das Leben ist eben noch das beste Theater, vor allem dann, wenn niemand mehr merkt, was beides unterscheidet.

Während im Schillertheater die subventionierte Moraltrompete ertönt, appelliert der berufsmäßig besorgte ARD-Kommentator an das Fernsehpublikum, sich von den Bürgerkriegsbildern aus dem Libanon bitteschön erschüttern zu lassen. Das ist brav, nützt aber nicht viel. Hätte der Schütze von Nijmwegen dazugesagt, daß er kein Theater macht, wäre die Szene vom ästhetisch gestimmten Publikum dieser raffinierten Pointe wegen womöglich noch stürmischer beklatscht worden. Einmal Theater, immer Theater.

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