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Alles Kanaken

Von unserer Kontext-Redaktion↓

„Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen“, weiß der Mann, der die deutschen Sozialsysteme schon mal „bis zur letzten Patrone“ gegen die Einwanderung fremdländischer Schmarotzer verteidigen wollte. Am Montag war Bundesinnen­minister Horst Seehofer (CSU) vor Ort in Stuttgart, um sich ein Bild zu machen von der Verwüstung, die schwere Ausschreitungen in der Nacht auf den vorangegangenen Sonntag hinterlassen haben. Das Problem: Von Spuren der Zerstörung war da kaum noch etwas festzustellen. Weil aber die Bilder zur Botschaft passen müssen, wurde für den Pressetermin ein demoliertes Polizeiauto aufgefahren, das Seehofer und Kollegen vor versammelter Fotografenschar mit ostentativem Entsetzen in Augenschein nehmen konnten.

Die Krawalle vom Wochenende schlimm zu finden könnte als Minimalkonsens des zivilisierten Miteinanders vorausgesetzt werden. Aber manchmal reicht das Drama nicht, es muss der Super­lativ sein, unbedingt: Von der „nie dagewesenen Eskalation der Gewalt“ in „Stuttgarts dunkelster Nacht“ bis zum „Schlachtfeld wie im Krieg“ lassen Wortmeldungen befürchten, dass der Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorsteht. Die Bilanz: Fensterscheiben von 40 Geschäften und 14 Polizeiautos wurden beschädigt, neun Läden geplündert, ein Student brutal gegen den Kopf getreten, 19 Polizisten verletzt, davon einer so schwer, dass er am nächsten Tag dienstunfähig war. Das schockiert. Und trotzdem dürfte die durchschnittliche Lebenserwartung in Stuttgart immer noch höher ausfallen als in manch angeblich sicherem Herkunftsland, in dem tatsächlich bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen.

Während es nach dem Mord an George Floyd ein paar Tage lang so schien, als könne die Bundesrepublik anfangen, den strukturellen Rassismus in ihren Institu­tionen ernsthaft aufzuarbeiten, dominieren nun schon wieder ganz andere Töne. „Wir werden nicht der Görlitzer Park“, stellt etwa Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) fest: „Wir sollten es mit Multi-Kulti nicht übertreiben.“ Selten war der Rechtsextremismus so anschlussfähig an die bürgerliche Mitte wie aktuell, sagte Strobl vor nicht einmal zwei Wochen, als er den jüngsten Verfassungsschutzbericht vorstellte. Einen strukturellen Rassismus bei der Polizei will er aber nicht erkennen.

Doch Rassismus fängt nicht erst dort an, wo Flüchtlingsheime brennen. Zwar gebe es auch „beinharte Nazis im Polizei­apparat“, sagt der Anwalt Mehmet Daima­güler (nur online), der die Opfer des NSU vertreten hat. Doch dabei handle es sich „quantitativ um ein kleineres Problem“; schlimmer seien die vielen „kreuzbraven und demokratisch gesinnten Beamten und Beamtinnen, die rassistisch handeln, ohne das überhaupt zu bemerken.“ Etwa wenn der Schwarze bei der Personen­kontrolle einfach verdächtiger erscheint als der Weiße. Doch Daimagüler verweist darauf, dass Schubladendenken selten sinnvoll ist. Und so geht der Anwalt grundsätzlich davon aus, dass die meisten Polizistinnen und Polizisten einen guten Job machen und ganz ähnliche Sorgen haben wie andere Menschen auch – etwa eine bezahlbare Bleibe zu finden. Während Sicherheits­politiker sich gerade mit Forderungen überbieten, welche erweiterten Befugnisse der Polizei noch erteilt werden sollten, sind die Rufe nach einer besseren Bezahlung verblüffend leise.

Was Daimagüler bezüglich rechter Strukturen im Polizeiapparat fordert, ist weder anmaßend noch ein Generalverdacht. Was er verlangt, sollte selbstverständlich sein: „Wir müssen sehr genau hinschauen.“ Einen Grund dafür liefern nicht nur bekannt gewordene Fälle von Ordnungshütern, die Tannenbäume mit Hakenkreuz-Kugeln schmücken oder Verschwörungstheoretiker mit Sprengstoff versorgen. Die Schwelle zur Diskriminierung liegt viel niedriger: Im Netz kursiert aktuell die Sprachnachricht eines mutmaßlichen Polizisten, die authentisch scheint, deren Echtheit die Stuttgarter Polizei bislang nicht bestätigen wollte. Der Mann schildert im sachkundigen Polizeijargon seine Eindrücke von den Krawallen in Stuttgart. Im Hintergrund sind Geräusche zu hören, die sich wie Polizeifunk anhören. Ein „Polizist spricht sich von der Seele, was er gerade erlebt“, berichtet etwa RTL und veröffentlicht „seinen Erlebnisbericht gekürzt“. Da ist dann zu hören, dass wir uns „heute Nacht wirklich im Krieg“ befinden, „ich übertreibe nicht“. Gegenüber der originalen Sprachnachricht fehlen nur wenige Sekunden. Was herausgeflogen ist? Die Stelle, an der der mutmaßliche Polizist über die mutmaßliche Herkunft der mutmaßlichen Randalierer herzieht: „Alles Kanaken!“

Festgenommen wurden bislang 24 Tatverdächtige, darunter 12 Deutsche.↓

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