: Alleinerziehend und -verdienend
■ Betr.: „Was heißt hier Beruf? Bei Aldi sind noch Stellen frei“, taz vom 10.1.94
[...] Was soll das, wenn in der Unterzeile steht: „Ein Drittel der Alleinerziehenden lebt von Sozialhilfe“, was schlicht und einfach nicht stimmt, jedenfalls nicht für die Bundesrepublik. Dann erfährt man im Text, daß es sich um die Schätzung eines Mitarbeiters im Münchner Sozialamt handelt, und daß dieser eigentlich auch das Ganze umgekehrt gemeint hat, nämlich ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger seien seiner Meinung nach alleinerziehend. In München, so erfährt zudem der/die LeserIn, sind nun sogar drei Viertel aller Alleinerziehenden Sozialhilfeempfänger, aber nirgendwo erfährt man, wie diese ungewöhnliche und in der Bundesrepublik wohl einmalig hohe Zahl zustande kommt – falls sie überhaupt stimmt.
Irgendwo im Text findet man dann auch die richtige Zahl, entsprechend der amtlichen Statistik: „In Deutschland lebt derzeit mindestens jeder zehnte der alleinerziehenden Mütter und Väter von Sozialhilfe.“ Das ist viel, aber es ist ein Zehntel und nicht ein Drittel und auch nicht drei Viertel.
Daß die Tendenz steigt, stimmt ebenfalls, aber Sie erwecken den Eindruck, als sei diese Steigerung ein Ergebnis der Verarmung. Die Tendenz steigt, weil es seit August 1992 das „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ gibt, demzufolge alleinerziehende Mütter mit Kindern bis zu sechs Jahren Sozialhilfe erhalten, ausnahmslos auch wenn sie Kinder wohlhabender oder gar reicher Eltern sind. Immer mehr Frauen beanspruchen dieses Gesetz. Das ist ihr gutes Recht. Die Diskriminierung, die mit der Inanspruchnahme verbunden ist, merken sie meist zu spät.
Was der Artikel außerdem verschweigt: Von dem oben genannten Zehntel der Alleinerziehenden, die Sozialhilfe bekommen (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt), befindet sich etwa ein Drittel im Erziehungsurlaub. Diese Frauen erhalten in den beiden ersten Jahren zusätzlich zur Sozialhilfe 600 DM Erziehungsgeld, im dritten Lebensjahr des Kindes in einigen Bundesländern Sozialhilfe plus Landeserziehungsgeld.
Frauen – alleinerziehende wie verheiratete – werden mit dem Erziehungsurlaub aus dem Arbeitsmarkt hinauskomplimentiert. Da es für diese Zeit keine Lohnersatzleistungen gibt, sind sie im Erziehungsurlaub finanziell abhängig, entweder vom Ehemann oder vom Sozialamt. Der Unterschied liegt im gesellschaftlichen Status, nicht im objektiven Sachverhalt. Abhängigkeit vom Sozialamt wird benutzt, um Alleinerziehende zu stigmatisieren, finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann gilt wohl als „natürlich“.
Eine weitere Information wird unterschlagen: Die zweitgrößte Einzelgruppe der Alleinerziehenden, die von Sozialhilfe leben, sind Hausfrauen im Trennungsjahr oder im ersten Jahr nach der Ehescheidung. Die Ursache für ihre Sozialhilfebedürftigkeit ist also die Hausfrauenehe, nicht das Alleinerziehen.
Übrigens: Die allermeisten alleinerziehenden Mütter und Väter verdienen ihren Lebensunterhalt selbst. Dr. Gunhild Gutschmidt,
Wissenschaftl. Referentin,
Verband alleinstehender Mütter
und Väter – Bundesverband
e.V., Bonn
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