■ Alle reden vom Reformstau. Doch der bundesdeutschen Bürokratie mangelt es weniger an Großreformen als am Sinn für das Machbare: Republik im Handlungsstau
Das Finanzamt hat geschrieben. Ein zweiseitiger Bescheid mit einer akkuraten Berechnung dessen, was sich meine Grundsteuerschuld nennt. Dem amtlichen Schreiben war ein Telefonat mit der zuständigen Sachbearbeiterin Frau L. vorausgegangen und ein Fragebogen, filigran, handgeschrieben, mit zusätzlichen Auskunftsersuchen zu meinem „Grundeigentum“ (wann, wo, wie, warum erworben?). Frau L. hatte nicht nur mit einem Lineal jede ihrer Fragen sorgfältig umrahmt, sondern mein Grundeigentum auch bereits per Augenschein inspiziert. Nach zweimonatiger Bearbeitungszeit kam die Zahlungsaufforderung. Die Steuerschuld betrug 4,20 DM.
Zwei Tage später: Wieder Post vom Finanzamt. Meine Umsatzsteuervorauszahlung sei zehn Tage nach dem Fälligkeitstermin noch nicht eingegangen. Die Mahngebühr – derzufolge kann es sich um keine erhebliche Steuerschuld handeln – betrage 7,26 DM. Bei weiterer Säumigkeit behalte man sich Zwangsmaßnahmen vor.
Es sind Tage wie dieser, an denen man abends, vor dem Fernseher, nicht nur an der Prioritätensetzung von Finanzbehörden zweifelt, sondern auch an der Rationalität staatlichen Handelns: Im hessischen Bad Homburg, der Gemeinde mit den meisten Millionären in Deutschland, geht das Einkommensteueraufkommen – dank Sonderabschreibungen und Steuerflucht – gen null. In vielen Kommunen vor allem Ostdeutschlands finden keine Steuer- oder Betriebsprüfungen statt, weil es an Personal fehlt. Zusätzliche Finanzbeamte würden zwar ein Zigfaches dessen, was sie den Steuerzahler kosten, locker einspielen. Aber für mehr Einnahmen hat der Staat kein Geld.
An solchen Tagen kriegen das Wort „Steuerreform“ und das Lamentieren über ihr Ausbleiben einen schlechten Beigeschmack. Die Steuer-, Renten-, Sozial- etc. Reformen – alle stehen sie so sehr im Stau, daß die Deutschen den „Reformstau“ lieb genug gewonnen haben, um ihn zum Wort des Jahres zu küren.
Aber was helfen die besten Reformen, selbst wenn sie jemals beschlossen würden, wenn sie nie in die Praxis umgesetzt werden? Wenn zwischen großen Entwürfen und banalem Alltagsvollzug Lichtjahre liegen? Wie will ein Staat Reformen umsetzen, der sich als unfähig erweist, selbst den derzeit möglichen Handlungsrahmen auszuschöpfen und geltendes Recht zu exekutieren?
Manchmal gewinnt man den Eindruck, daß alles masochistische Starren auf den Reformstau eher von einem anderen Problem ablenkt – vom real existierenden Handlungsstau gelähmter Institutionen. Wer einmal gesehen hat, wie etwa die Unterhaltsvorschußkasse eines Jugendamtes nach dem uralten Zettelkasten- und Hängeordnerprinzip Alimente eintreiben soll, weil die Behörde kein Geld für einen Computer hat, setzt Fragezeichen hinter das Wehklagen über den „Reformstau“.
Die großen „Reformen“ mögen im Gestrüpp von unterschiedlichen Wirtschafts-, Macht- und Parteiinteressen hängenbleiben. Die unterhalb des großen „Wurfes“ dennoch machbaren Schritte scheitern an einer viel gravierenderen Malaise: an der inneren Spielart einer öffentlichen Verwaltung, ihrer anerzogenen Behäbigkeit und ihrem weitgehenden Verzicht auf Erfolgs- und Effizienzprinzipien. Ein Phänomen, das nach Erklärungen sucht: Wie konnte es passieren, daß staatliches Handeln meilenweit hinter der gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung zurückhinkt und auch noch glaubt, sich das unbeschadet leisten zu können? Wie wurde die öffentliche Verwaltung, die immerhin das Gemeinwesen organisiert, zu einem Fossil ohne Gestaltungswillen und -kompetenz? Zu einem Vehikel, das auch durch ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger im Einkommen- und Mehrwertsteuersatz nicht vertrauenerweckender würde?
Nehmen wir das Politikfeld, in dem die ausstehende Reform am dringendsten wäre: das Staatsbürgerrecht. Seit einigen Legislaturperioden wird seine Anpassung an die Einwanderungswirklichkeit gefordert – automatische Staatsbürgerschaft für hier geborene Migrantenkinder, kürzere Aufenthaltsfristen für Erwachsene bis zum Rechtsanspruch auf den deutschen Paß. Doch schon jetzt hat das Gros der Einwanderer längst einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Aber die zuständigen Ämter lassen sich oft zwei Jahre Bearbeitungszeit, um die Einbürgerungsanträge zu prüfen. So verlängern sie die gesetzliche Wartefrist zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft mit verwaltungstechnischen Mittel stillschweigend um Jahre – Jahre, um die in der Reformdiskussion erbittert gestritten wird.
Der Reformstau ist ärgerlich und schädlich. Bedenklicher und verdrießlicher aber ist, daß jene, die sich durchaus bewegen könnten, es nicht tun – weil sie zum Schneckentempo vergattert sind oder über ihre eigenen Beine stolpern – durch kurzsichtige Sparpolitik, ideologisch geprägte politische Vorgaben, falsche Schwerpunktsetzung, Dienst innerhalb abgezirkelter Arbeitsminuten und anachronistische Strukturen, die jedes mittelständische Handwerksunternehmen in den Ruin treiben würden. Solange oben über die großen Reformen gestritten wird, diskutiert niemand über die vielen kleinen Handlungsschritte in der Praxis, durch die sich staatliche Strukturen tagtäglich selbst disqualifizieren. Dabei könnten sich die „kleinen“ Veränderungen als die schwierigeren erweisen, aber auch als die mit einer weit tieferen Innovations- und Motivationskraft für unsere Gesellschaft als jede Steuer- oder Rentenreform.
Mit Jahresbeginn haben wir wieder ein schönes Anschauungsbeispiel mehr, wie nicht die ausbleibenden Reformen, sondern politische Vorgaben und antiquiertes Verwaltungshandeln in die Blockade treiben. Künftig werden auf den Fluren der Arbeitsämter im Dreimonatsrhythmus sämtliche knapp fünf Millionen Arbeitslosen der Republik einmal umgewälzt. Alle Leistungsempfängerinnen müssen einmal im Quartal persönlich vorsprechen und ihre Arbeitsbemühungen unter Beweis stellen. Das soll die Betroffenen auf Trab halten – vor allem blockiert es die Beschäftigten in den Arbeitsämtern. Weil es weder mehr Personal für diese Mehrarbeit gibt noch eine zeitgemäße technische Infrastruktur, quellen manche Sachbearbeiterzimmer über vor unsortierten Aktenbergen. Wenn Sie im Jahre zwei vor der Jahrtausendwende Kafka noch einmal live erleben möchten, besuchen Sie Ihr Arbeitsamt. Vera Gaserow
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