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■ QuerspalteAlle Wetter, die Bahn

Ich war dabei. Ich war dabei, als wir – einen Tag vor Heiligabend – sieben Stunden in einem ICE ausharren mußten, weil sich ein schneebeladener Baum über die Gleise gelegt und so unseren Zug gestoppt hatte. Der winterliche Unglücksfall hatte jedoch nicht nur dramatische Seiten, wie etwa der Hessische Rundfunk glauben machen wollte. Der Sender hatte mehrere meiner insgesamt 500 Mitopfer aus der „Eisfalle“ (Süddeutsche Zeitung) interviewt. Sicher, schön war das nicht, daß wir, obwohl die Heizung ausgefallen war, „weder wärmende Decken noch Essen oder Getränke“ von den drei Schaffnern bekamen (Herr Krause aus Wagen 32). Zu Recht beklagte sich auch Frau Seeger. Sie war gezwungen gewesen, ihre Weihnachtsgeschenke aufzuessen – die Bahn schuldet ihr somit eine Schachtel Zimtsterne, einen Christstollen und drei Frotteehandtücher. Auch dürfen einige andere schreckliche Erfahrungen nicht beschönigt werden: Wegen der schwächlichen Notbeleuchtung mußte zum Beispiel in Wagen 39 eine Skatpartie abgebrochen werden, in der Küche des Zugrestaurants gab es häßliche Streitereien um wärmende Topflappen, und niemand kennt das Ende des Spielfilms, der zum Zeitpunkt der Karambolage im Videowaggon lief.

Wie so oft, spricht jedoch niemand von den positiven Auswirkungen des Ereignisses. Immerhin teilten Fremde wie selbstverständlich hartgekochte Eier und Handys und setzten all ihre Fähigkeiten ein: Eine Theologiestudentin teilte die letzten Portionen kalter Austernpilze in Thymiansauce an die Bedürftigen aus, ein pensionierter Hausmeister unterhielt kleinere Kinder mit Geschichten vom Rußlandfeldzug. Ein Handlungsreisender in Sachen „Spiel und Hobby“ versuchte gar, das Hindernis mit seiner teuersten Musterlaubsäge zu zerkleinern.

Vor allem aber werde ich nie vergessen, wie zu später Stunde die alte Klavierlehrerin zu singen anhub. Mit brüchiger Stimme intonierte sie „Wir lagen vor Madagaskar...“ – wir fielen ein, und die Musik hielt uns warm. Carola Rönneburg

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