Alle Wege führen nach Rom: Luther Blissett
Ein Kulturterrorist geht um in Europa. Er betreibt Internetseiten, schreibt Rocksongs und literaturpreisverdächtige Bestseller
„Q“ – so karg der Titel ist, so voluminös ist der historische Roman, der sich hinter dem einen Buchstaben verbirgt. Ein 600-Seiten-Opus, das trotz seiner Länge nie langweilig wird. „Q“ entführt die italienischen Leser ins Deutschland der Reformation und der Bauernkriege. Es spannt den Bogen von Martin Luther, der erst die Massen entflammte und sie dann an die Fürsten verriet, über die Ausrottung der Anhänger Thomas Müntzers und der Wiedertäufer in Münster, den Geheimpakt der Fugger mit dem Vatikan, der auf die Vernichtung der Antwerpener Sekten zielte, und die Intrigen der römischen Kardinalsseilschaften bis zur Abrechnung der Kirche mit ihren jüdischen Gläubigern.
Hauptperson auf allen Schauplätzen ist ein Häretiker ohne feste Identität. Dauernder Verfolgung ausgesetzt, ist er immer wieder gezwungen, seinen Namen zu wechseln. Sein Gegenspieler ist Q, der Verräter, der Spitzel in den Diensten des Kardinals Carafa. So schlecht die Mächtigen, die Fürsten und Kleriker in dem Roman wegkommen, so harsch ist freilich auch die Kritik an den Rebellen und dem tugendhaften Terrorismus der vorgeblichen Freiheitskämpfer. Und bitter ist der Schluss des Buches: Der namenlose Häretiker muss sich geschlagen geben. Immerhin, ein kleiner Schimmer der Hoffnung bleibt – die Entstehung der Druckkunst. Bücher und fliegende Blätter werden zu einem neuen Mittel, das den Ideen Flügel verleiht, das die häretischen Gedanken im Nu von einem Ort zum anderen trägt, das in der Lage ist, mit einem Schlag tausende von Personen zu erreichen.
Unschwer zu erraten, dass der Häretiker ohne Namen das Alter Ego der Autoren ist: Autoren ohne Gesicht und Identität, die kein Copyright für das Buch reklamieren und mit dem Alias „Luther Blissett“ zeichnen. Ein gewisser Luther Blissett aus Jamaika schoss übrigens als Mittelstürmer für den AC Mailand schöne Tore. Das war im Jahr 1984. Und nun treibt sich seit 1996 ein Phantom gleichen Namens in mehreren europäischen Ländern herum. „Offenbarung des Luther Blissett. Aus dem Italienischen übersetzt von Luther Blissett und Luther Blissett“, heißt es auf Blissetts deutscher Website. Der deutsche L. B. ist Verfasser des „Handbuchs der Kommunikationsguerilla“ (VLA/Schwarze Risse/Rote Straße, Hamburg/Berlin) wie diverser Rocksongs; doch Namensvettern sind auch aus Spanien, England und den USA überliefert. Sogar ein Phantombild gibt es im Internet. Fraglich bleibt allerdings, ob es zur Enttarnung auch nur eines der dutzenden Blissetts beiträgt.
„Ich bin Luther Blissett. Ich lehne es ab, mich durch jedwelchen Namen eingrenzen zu lassen. Ich trage alle Namen, ich bin alles. Ich ermuntere alle Pop-Gruppen, diesen Namen zu gebrauchen. Ich suche Erleuchtung durch Konfusion. Ich gedeihe im Chaos. Ich weise den Gedanken des Copyrights zurück. Nimm, was dir nützlich sein kann. Und zerstöre die ernste Kultur!“
Nicht umsonst schmückt Blissett sich mit dem Titel „Kulturterrorist“, setzt Gerüchte in die Medienlandschaft, macht Werbung für inexistente Religionen und Pseudowissenschaften und denunziert sich selbst als Drahtzieher frei erfundener subversiver Machenschaften. Bekannt wurde er erstmals in Italien mit einer Reihe erfolgreicher Radiosendungen, ausgestrahlt 1996 von einem Alternativradio in Bologna, die die Hörer in Bewegung brachten, zum Beispiel mit der hundertfach befolgten Einladung zu einer Blissett-Spontanparty im Autobus 62.
Mit großem Echo speiste Blissett auch spektakuläre „Nachrichten“ in den Medienzirkus. Etwa die Meldung vom malenden Schimpansen, der bei der Biennale von Venedig zu Gast sei; oder das komplett gefälschte Video einer schwarzen Messe inklusive Menschenopfern, das er ebenso in Umlauf brachte wie das metropolitane Märchen von den Huren, die ihren Kunden durchlöcherte Präser andrehen sollten. – Selbstverständlich veröffentlichte er parallel dazu Bücher über die Gewalttätigkeit der Medien und ihre Neigung, unberührt von Fakten mit Aids und anderen Ängsten Meinung und Kasse zu machen.
Mit dem Roman „Q“ hat Blissett jetzt den endgültigen Durchbruch geschafft. Veröffentlicht beim renommierten Verlag Einaudi (2001 soll es in deutscher Übersetzung bei Piper erscheinen), war es 1999 in der engeren Auswahl für den Premio Strega, den angesehensten Literaturpreis Italiens. Zu viel der Ehre für das Mediengespenst, das daraufhin seinen Ritual-Suizid durch Seppuku ankündigte. Zumindest der italienische Blissett ist damit Vergangenheit. Doch schon hat er einen Nachfolger. Ein gewisser Wu-Ming kündigte jetzt einen Roman an – mit den Helden Cary Grant, Lucky Luciano und Marschall Tito.
Marina Collaci
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