: All falls down
DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER
Die Gesättigten hassen sich selber nicht insgeheim, sondern öffentlich und wünschen in dieser oder jener Weise hinweggefegt zu werden. Sie ziehen es jedenfalls vor, daß es mit ihrer eigenen Unterstützung geschieht. E. M. Cioran
Von den verschiedenen Überlebenstechniken, die ich als Kind lernte, lautete eine, dass man keine Angst haben durfte. Und wenn man sie doch hatte, sollte man sie nicht zeigen.
Bis jetzt funktionierte das Leben damit ganz gut, nicht zuletzt, weil ich je nach Vermögen oder Bedarf mal die eine, mal die andere Technik einsetzen konnte. Das jedoch fällt mir zunehmend schwerer. Öfter übermannt mich jetzt die Angst, und manchmal gelingt es mir nicht einmal, sie zu verbergen. Es hat nicht so sehr viel damit zu tun, dass ich schon seit Jahren nicht in den Osten fahre. Manche meiner Freunde halten dies einfach für eine snobistische Pose, und ich lache dann immer mit ihnen über diese Marotten alter Westberliner, aber eine andere Überlebenstechniklehre aus der Kindheit hatte gelautet, sich stets auf seinen Instinkt zu verlassen.
Und so wenig der Instinkt etwas dagegen hatte, nachts durch Washington Heights oder Harlem zu laufen oder allein durch fremde Länder zu reisen, so hatte er doch nie etwas dafür übrig gehabt, sich in Brandenburg zu bewegen. Muss ja nicht sein. Nach Paderborn wollte er auch nie.
Der Instinkt will nicht dahin, wo es zu eng ist. Er will im Kino am Rand sitzen und im Bus an der Tür stehen; er will sich nicht dort niederlassen, wo man die falschen Lieder singt. Der Instinkt hat es gern offen, lebendig und weit und wollte nie nach Brandenburg. Oder, wie immer irgendein Westberliner trübselig im Zug vor sich hin murmelte, wenn man durch die Zone zuckelte: „Allet jrau in jrau hier.“
Alles und alle sahen gleich aus. Graue Gesichter über grauen Jacken in grauen Straßen. Anderes fand kaum statt. Was nicht passend war, wurde noch nicht mal passend gemacht.
Internationale Völkerfreundschaft und Solidarität gab’s zu besonderen Anlässen als Banderole im Fernsehen, und wer eine ausländische Liebesgeschichte pflegte, saß nicht lange auf Wolke sieben.
Die aufsteigende Angst hat also nicht etwa damit zu tun, dass man nicht nach Brandenburg darf, muss oder will, sondern viel mehr damit, dass sich das Gefühl verstärkt, hier solle allmählich und schleichend auch woanders immer mehr Brandenburg werden, wo gar nicht Brandenburg draufsteht. Brandenburg ist nämlich das, was es ist, weil es lange Jahre grau in grau lebte, sich daran gewöhnte und dachte, so müsse es sein, das Leben. Das räumen auch die ein, die nicht alles über einen Kamm geschoren haben wollen. Die sagen, es gebe auch in Brandenburg Menschen, die es lieber farbig wollen. Man höre nur weniger von ihnen.
Nun aber müssen wir auch außerhalb Brandenburgs feststellen, dass Farbe nicht mehr gefragt ist. Es wird nämlich kaum noch eine reingelassen. Als der Kashmire Riyaz, der jetzt in Zürich lebt, mit seiner Schweizer Frau eine Reise nach Prag unternehmen wollte, sagte man ihm im April bei der Deutschen Botschaft in Bern, der nächste freie Termin, um ein Transitvisum durch Deutschland zu beantragen, sei im Juni. Er solle doch einfach durch Österreich fahren. Wer hätte gedacht, dass die Deutsche Botschaft in der Schweiz so überlastet ist? Mansoor aus Delhi wollte für vier Wochen nach Berlin kommen, man hat ihm aber nicht nur kein Visum gegeben, man hat ihm auch einen Stempel in den Pass gedrückt, dass er es ja die nächsten sechs Monate in keinem anderen Schengen-Staat probieren darf. Eigentlich braucht er es auch danach nicht mehr zu probieren, weil man mit einem solchen Ablehnungsstempel gebrandmarkt ist.
Einige der indischen Schauspieler und Musiker, die auf der Biennale in Bonn auftreten sollten, haben ebenfalls kein Visum bekommen – zu schmerzhaft waren offensichtlich noch die Erinnerungen an jene Tanztruppe aus Punjab, die 2004 beinahe komplett in Berlin untertauchte.
Eine Tanzgruppe aus Ghana, die im Brandenburger Tropical Island auftreten sollte, bekam zum Teil keine Visa, mit der Begründung des Auswärtigen Amts, man wisse ja nicht, ob die auch wieder zurückgingen. Die Liste ließe sich vermutlich beliebig mit anderen Reisenden aus Asien, Afrika und Lateinamerika ergänzen.
Nun, nach den letzten Nazi-Attacken muss man der Regierung ja fast dankbar dafür sein, dass sie keine Ausländer mehr reinlässt. Zu deren eigenem Schutz vermutlich. Denn wo keine Ausländer sind, kommt es gar nicht erst zu derlei Unannehmlichkeiten.
Man könnte natürlich fragen, so wie es meine türkische Freundin Leyla tut, ob nicht das ganze undifferenzierte Gequatsche über Zwangsverheiratungen dazu geführt hat, dass sich die Glatzen in einem warmen Pool von stillem Einverständnis wähnen konnten. Dort, wo sie sind, unter anderem auch in Brandenburg, können sie sich zumindest des Einverständnisses ihrer Eltern sicher sein. Und dort in Brandenburg haben sie auch jenen Innenminister, der seinerzeit in Kreuzberg so laut unter Überfremdung litt.
„Aber wir haben doch hier in Berlin nicht wegen zu vieler zwangsverheirateter Türken bei Pisa schlecht abgeschnitten, sondern wegen der beschissenen SPD-Bildungspolitik und der beschissenen GEW-Lehrer und der beschissenen Schulen überhaupt“, sagt Leyla bitter und beklagt den rapiden Verfall der „eigenen Meinung“ in Deutschland. Alle quasselten nur noch nach, was sie gerade eben noch aus den Medien vorgekaut bekommen hätten. „Selbst die Arzthelferin erzählt mir plötzlich was von gescheiterter Integrationspolitik!“, erbost sich die Kreuzberger Ärztin, als sei der Arzthelferin per se verboten, so einen Begriff überhaupt in den Mund zu nehmen.
Mein Instinkt fragt mich dagegen dauernd, ob ich nicht auf der falschen Seite lebe und wie lange ich da noch bleiben will. Immer wieder denke ich daran, wenn ich die Bilder von Menschen sehe, die für eine vermeintlich bessere Zukunft tausende von Euros bezahlen, nur um hier statt zu Hause schlecht behandelt zu werden.
Manche dieser Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf – Bilder von Menschen, die das Verenden in Stacheldraht, Containern oder auf dem Meer in Kauf nehmen, nur um hierher zu gelangen. Bilder von schwarzen Menschen, die eine schreckliche Odyssee hinter sich haben, aus dem Meer kommen und zwischen weißen, sich in der Sonne aalenden Urlauberleibern hin und her huschen. (Wie erleichtert war ich insgeheim, nicht gerade dort gelegen zu haben!)
Mein Instinkt weiß momentan nicht mehr, wo sein Zuhause ist. In diesem deutschen Brachland, in dem sich außer Glatzen kaum noch etwas bewegt, in dem es schon als Zivilcourage gilt, wenn man bei Übergriffen gegen Fremde die Polizei ruft? Nestbeschmutzer Heye hat die schmerzende Stelle berührt und jeder Heiler wird ihm Recht geben: Zu lang gehegte Schonhaltung führt zu chronischer Krankheit. Der Instinkt braucht offenbar unheimlich lange, bis er einsieht, dass es kein Zuhause mehr gibt. Man muss es sich immer wieder neu erschaffen. Harte Arbeit und gut gegen Angst.
Fotohinweis: Renée Zucker lebt als freie Publizistin in Westberlin.