Alfred Grosser zu Merkels Israelreise: "Meine Lehre aus der Nazizeit"
Israel baut eine Mauer und bombardiert Gaza. Morgen besucht Merkel Premier Olmert - und wird kein Wort darüber verlieren. Das ist Feigheit vor dem Freund, sagt Publizist Alfred Grosser.
taz: Herr Grosser, Angela Merkel fährt morgen zu den 60-Jahr-Feiern nach Israel. Sie wird dort ihre Verbundenheit mit Israel zum Ausdruck bringen. Spricht etwas dagegen?
Alfred Grosser: Nein, es ist gut, dass Deutschland sich Israel verpflichtet fühlt. Aber was mich stört, ist, dass Merkel und ihre Minister wahrscheinlich kein Wort zu Gaza und den besetzten Gebieten sagen werden. Es gab Kriegsverbrechen in Gaza - doch das anzusprechen, traut sich niemand, weil Schuldgefühle dominieren. Vor 17 Jahren kam ein israelischer Minister nach Chambon-sur-Lignon, einen Ort, in dem in den 40er-Jahren viele jüdische Kinder von Franzosen gerettet wurden. Der Minister überreichte dem ansässigen Pastor die Medaille der Gerechten. Und der Pastor sagte: Wir haben damals bedrohte Kinder gerettet - aber heute sind die bedrohten Kinder Palästinenser, deren Häuser und Schulen zerstört werden.
Aber hat Deutschland nicht auch 63 Jahre nach Kriegsende zu Recht noch eine besondere Haltung zu Israel? Sollten sich Deutsche nicht besser mit Kritik an Israel zurückhalten?
Das kommt drauf an. Ich denke, dass die Lehre aus der Ablehnung des Hitlerismus eine universelle ist. Überall wo Menschenrechte eklatant verletzt werden, sollte man im Namen des Antinazismus protestieren. Das ist jedenfalls meine Schlussfolgerung aus der NS-Zeit.
Nun argumentiert Israel, mit Blick auf Gaza, mit dem Selbstverteidigungsrecht. Und es werden ja Raketen von Gaza auf israelisches Gebiet abgefeuert.
Ja, sicher. Aber Israel hat in Gaza genauso wie im Libanon systematisch, absichtlich und massiv zivile Ziele wie Elektrizitätswerke zerstört. Und es ist doch zum Verzweifeln, dass die israelische Regierung seit Jahrzehnten nicht begreift, dass die massive Zerstörung, die Israel anrichtet, stets neue Terroristen erzeugt. Damit bleibt der Kreislauf der Gewalt in Schwung. Daniel Barenboim, der das israelische-palästinensische Jugendorchester gegründet hat, sagte kürzlich am Ende eines Interviews: "Olmert könnte nie Dirigent sein, weil er nicht zuhören kann."
Aber völkerrechtlich ist es legitim, wenn Israel sich gegen Angriffe militärisch vereidigt.
Nur wenn es verhältnismäßig ist. Und die Zivilbevölkerung zu bestrafen, ist nicht verhältnismäßig. Und fremdes Gebiet zu besetzen, ist nicht legitim. Genau das tut Israel seit Jahrzehnten.
Würden Protestnoten der EU oder Deutschlands an Israel denn etwas nutzen - oder wäre das nur Symbolpolitik? Was soll die EU denn real fordern?
Mindestens dass Israel nicht wie im Libanon, im Westjordanland und Gaza zivile Infrastruktur zerstört, die die EU bezahlt hat. Ich verstehe auch nicht, warum die Deutschen, die doch leidvolle Erfahrungen mit Mauern haben, nicht empfindlicher auf die Mauer reagieren, die Israel iim Westjordanland baut.
in israelischer Lesart ist dies ein Zaun, der für Israels Sicherheit notwendig ist.
Das stimmt nicht. Das ist eine Grenze, die Palästina durchschneidet und die Bevölkerung ebenso demütigt wie die Checkpoints.
Sind Sie nicht einseitig?
Ich bin als kleiner Jude 1933 in Frankfurt gedemütigt worden. Ich kann nicht verstehen, dass Juden demütigen. Es geht auch um das Verständnis für das Leiden der anderen. 1953 habe ich in Paris mein erstes Deutschland-Buch veröffentlicht, in dem es auch viel um deutsches Leid, um Dresden und die Vertreibung ging. Warum? Weil ich glaubte, dass wir von einem jungen Deutschen nur verlangen konnten, das Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu begreifen, wenn wir auch Verständnis für das Leid der Seinen zeigten. Und ich glaube eben auch nicht, dass man von einem jungen Bewohner Gazas verlangen kann, dass er den Horror der Attentate in Israel begreift, wenn man keinerlei Verständnis für seinen Hunger und seine Aussichtslosigkeit erkennen lässt.
Welche Druckmöglichkeiten hat die EU denn?
Natürlich wirtschaftliche, es gibt ja viel Handel. Aber die EU wird Israel nicht mit Sanktionen drohen. Aber wie wäre es, mit der israelische Regierung ganz offen über die Angriffe auf Gaza und die Mauer zu sprechen? Und über all die Resolutionen der UN, die Israel missachtet hat und noch immer missachtet, obwohl Israel doch ständig darauf hinweist, dass es durch eine UN-Resolution entstanden ist. Mehr schlage ich gar nicht vor.
Was sollte Angela Merkel also Ihrer Meinung nach in Jerusalem tun?
Genau dies Olmert sagen. Unter vier Augen Klartext reden, im öffentlichen Auftritt moderat sein. Wäre das unter befreundeten Staaten zu viel verlangt? Es gibt außerdem doch eine Kluft zwischen Moral und Realpolitik zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier in Bezug auf China. Kann man sich so einen Dissens nicht auch in Bezug auf Israel vorstellen?
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