Alexijewitsch und Harms zu Tschernobyl: „Das Böse ist total geworden“
Die weißrussische Nobelpreisträgerin und die Vorsitzende der EU-Grünen reden über den GAU, Merkel und den Umgang mit der Flüchtlingssituation.
taz: Frau Alexijewitsch, der wichtigste Satz Ihres Tschernobyl-Buches lautet: Tschernobyl ist unsere Zukunft. Was bedeutet das?
Swetlana Alexijewitsch: Als ich vor 30 Jahren „Eine Chronik der Zukunft“ geschrieben hatte, konnte der Eindruck entstehen, das sei ein künstlerischer Einfall. Aber nach der Katastrophe von Fukushima nicht mehr. Seither ist es offensichtlich, dass der Mensch von seinem ihm von der Natur zugewiesenen Platz abgerückt ist und mit der Natur aus der Position des Stärkeren spricht. Und natürlich nimmt die Natur Rache an uns. Für mich war alles schon offensichtlich, als ich an den ersten Tagen nach dem Unglück in Tschernobyl war. Die Militärs rannten mit ihren Maschinenpistolen hin und her. Da war die absolute Ohnmacht der modernen Zivilisation zu sehen angesichts dieser neuen Realität.
Rebecca Harms: Es gab keine Erfahrung, kein Koordinatensystem, mit dem das Geschehen eingeordnet werden konnte. Die Armee und der Ausnahmezustand ließen an Krieg denken. Und daher reagierte man in alten Mustern. Als sei die Katastrophe wie ein Krieg.
Alexijewitsch: Es ist eine absolut neue Situation entstanden: Das Böse ist total geworden. Der Mensch bekam plötzlich Angst vor Gras, vor Wasser, vor den Vögeln. Ich kann mich noch gut an die Gesichter der Menschen erinnern, als die Militärs sie anwiesen, ihre Eier und Hühner zu begraben. Der Soldat schaute genauso verrückt drein wie die alte Frau, der er das befahl.
Literatin: Swetlana Alexijewitsch ist Schriftstellerin, 2015 bekam sie den Literaturnobelpreis für ihr „vielstimmiges Werk“ – die Literarisierung individueller Stimmen zu Collagen im Postsozialismus. Sie wurde 1948 in der Ukraine geboren und lebt in Weißrussland. Eines ihrer wichtigsten Bücher: „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“.
Politikerin: Rebecca Harms ist deutsche Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament. Sie wurde 1956 geboren, politisiert im Atomkraft-Widerstand im Wendland, ging Mitte der 80er in die Institutionen. Kämpft im EU-Parlament für globalen Atomausstieg. Expertin für die Ukraine und Unterstützerin einer EU-Annäherung.
Harms: Als ich 2012 in Fukushima war, stellte ich fest, dass die gleichen Fehler gemacht wurden wie 1986 in Tschernobyl. Zum Beispiel hat man kein Jod verteilt.
Alexijewitsch: Warum lief das so? Die Machthaber waren sicher, dass dieses Unglück in Tschernobyl nichts mit ihnen zu tun hat. Mir ist in dieser Zeit klar geworden, dass an der Macht lauter Mittelmaß unterwegs ist. Aber die Situationen, mit denen wir konfrontiert werden, erfordern kluge Köpfe. Das Wissen ist zwar vorhanden, aber abgekapselt nur bei den Wissenschaftlern. Die Machthaber leben komplett getrennt davon. Heutzutage muss beides zusammenkommen.
Harms: Es gab damals doch schon die Perestroika-Menschen, wie Sie sie oft genannt haben.
Alexijewitsch: Die gingen auf die Straße, waren auf den Plätzen. Doch in der Führung waren nach wie vor dieselben sowjetischen Apparatschiks.
Harms: Als ich Ihr Buch über Tschernobyl jetzt wieder gelesen habe, hat mich etwas neu erschreckt, worüber ich schon bei meinem Besuch 1988 in der Zone erschrocken war. Das Leben der Menschen, gerade auch derjenigen, die als Liquidatoren eingesetzt werden …
Swetlana Alexijewitsch
… Soldaten, AKW-Personal und Freiwillige, die reparierten, aufräumten, zu retten versuchten.
Harms: Ihr Leben verwandelt sich in furchterregende ScienceFiction. Aber sie versuchen, normal weiterzuleben. Nur wenige laufen weg.
Alexijewitsch: Das waren ganz neue Verhältnisse, aber dieser riesige Raum des Volkslebens bestand ja weiter. Das neue Wissen konnte nicht sofort in das Denken der Bauern eindringen oder in das Denken der Generäle, nicht einmal in das der Schriftsteller. Nur wenige begriffen, was da vor sich ging. Einmal war ich bei einem Treffen mit Gorbatschow, und man hat ihn gefragt: Wie konnten Sie so unbedacht die Menschen dort einsetzen, von denen dann viele starben? Er antwortete: Glauben Sie mir, die Kollegen haben mir versichert, es sei nichts Schlimmes dabei. Oder als nachts das AKW brannte, die Menschen in den Dörfern ringsherum und in diesem Städtchen Pripjat erzählten mir, wie sie ihre Kinder auf die Balkone führten und sagten: Schaut mal, wie schön das aussieht. Dabei haben sie den Tod eingeatmet. Vor meinen Augen verwandelte sich der Vor-Tschernobyl-Mensch in einen Tschernobyl-Menschen.
Für Tschernobyl-Menschen gibt es keinen Schutz durch Grenzen, durch Waffen und auch nicht durch Liebe. Es ist eine furchtbare Szene, als die Ärzte zu den Frauen der Verstrahlten sagen: Gehen Sie weg, das sind verseuchte Objekte.
Alexijewitsch: Sie sagen ihnen, das sei kein geliebter Mensch mehr, sondern ein radioaktives Objekt. Da entstehen eine Menge moralischer Probleme: Besucht man einen solchen Ehemann oder doch nicht? Nimmt man ein erkranktes Kind auf die Arme oder nicht? Eine schwangere Frau geht zu ihrem Ehemann und bringt dann ein Kind zur Welt, das nur ein paar Stunden lebt.
Harms: Oder missgestaltete Kinder werden geboren, die auch geliebt werden wollen. Sie sprechen im Buch davon, dass die Liebe zur Qual der Frauen werde.
Alexijewitsch: Seit fünf Jahren sterben alle Menschen um mich herum an Krebs, an den Folgen von Tschernobyl. Das ist offensichtlich, weil es keine solche Menge von Krebstoten auf einmal geben kann. Wir leben in der Tschernobyl-Welt, wir trinken vergiftetes Wasser, die Erde ist vergiftet. Nach und nach dringt das Gift in die Menschen ein.
Vor 30 Jahren veränderte die Atomkatastrophe von Tschernobyl alles. Der GAU hatte ungeahnte Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die taz widmet sich in einer Sonderausgabe der „Generation Tschernobyl“. Mehr über die Reaktorkatastrophe sowie die Berichterstattung der taz damals und heute gibt es hier.
Harms: Einer meiner traurigsten Gedanken ist, dass es in großen Gebieten Weißrusslands und der Ukraine normal geworden ist, dass Kinder ans Sterben denken und dass der Tod die Kindheit begleitet.
Alexijewitsch: Das ist so, wenn in jeder Familie ständig jemand stirbt, auch Kinder. Einer der Betroffenen hat zu mir gesagt: Wir sind wie die menschlichen Blackboxes, die die Tschernobyl-Informationen für alle mitschreiben. Dem entgegen steht die deutsche oder bis vor kurzem die japanische Denkweise, dass der Mensch ein so großes Ereignis verdrängt und es nicht bis zu Ende begreift.
Harms: In der Situation von Tschernobyl sind die Leute nicht geflüchtet, sondern haben sich einem Feind gestellt, den sie nicht bezwingen konnten. Viele begriffen ja doch, dass der Einsatz vor Ort, aber auch das Leben mit den Folgen der Katastrophe sehr gefährlich sind. Sie stellten sich, weil sie unbedingt leben wollten. Obwohl sie Gigantisches leisteten, hatten sie keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Diese Niederlagen der vielen Menschen in Tschernobyl haben dazu geführt, dass die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Das wurde zum Sprengsatz. Das und Afghanistan.
Alexijewitsch: Das waren die gewaltigen Risse in diesem riesigen Gebäude Sowjetunion. Ich würde aber sagen, Rebecca, dass nicht nur die Russen oder Sowjets den Krieg gegen Tschernobyl verloren haben. Die Menschheit hat ihn verloren. Die gesamte Menschheit hat keine Waffen für diesen Kampf. Unsere Zukunft ist ein Menschheitsproblem. Auch in Fukushima schaffen sie es immer noch nicht, die Situation zu bewältigen. Es werden noch viele solche Situationen kommen: sei es wegen des Atommülls, sei es wegen der Terroristen, die sicher irgendwann die Wirkung der nuklearen Gefahr ausnutzen werden.
Ihr Fazit, Frau Alexijewitsch: Die Welt hat sich durch Tschernobyl radikal verändert, aber der Mensch hat nichts dazugelernt.
Alexijewitsch: Richtig. Als man die Russen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken vertrieb, sind viele, weil sie ja nicht reich waren, in die verlassene Gegend um Tschernobyl gefahren. Als ich solchen Menschen dort begegnete, fragte ich eine Frau mit Kindern: Wieso sind sie hierher gekommen? Sie antwortete mir: Warum denn nicht, hier wird doch nicht geschossen! Und dann starben ihre Kinder eins nach dem anderen, und sie konnte es sich nicht erklären. Die sind allein gelassen worden. Deswegen ist es notwendig, dass der Staat für die Verbreitung dieses Wissens sorgt.
Tschernobyl und die Folgen
Ich würde gern eine Analogie zur aktuellen Flüchtlingssituation diskutieren. Auch das ist ein grenzenloses Problem der Menschheit. Man versucht, es mit altem Denken, mit Grenzen gegen Menschen zu lösen.
Alexijewitsch: Genau, wir sind in einer neuen Realität. Es gibt eine Hysterie, die einige angesichts der Flüchtlinge erfasst hat. Da müssen die Staaten eine neue Philosophie erarbeiten, um für Fremde bereit zu sein. Da kommen nicht mehr unbedingt Menschen mit Waffen, da kommen jetzt Menschen mit ihrem Unglück. Wenn man die Berichte über die Klimaerwärmung und den steigenden Meeresspiegel liest, kann man sicher sein, dass die Anzahl der heutigen Flüchtlinge uns morgen als gar nicht so hoch erscheinen wird. Vor Kurzem war ich in Sibirien, da hat mich der Gedanke eines Lehrers verblüfft. Wir sind über die endlose Taiga geflogen, und er sagte: In der nahen Zukunft wird hier alles besiedelt – und nicht nur von den Russen.
Im wohlhabenden Westen glauben viele nicht mehr an eine gute Zukunft und klammern sich an die Illusion einer ewigen Gegenwart oder gar einer besseren Vergangenheit.
Alexijewitsch: Heute macht die Zukunft nur noch Angst. Zum ersten Mal gewinnt die Gegenwart gegenüber der Zukunft. Tschernobyl ist zu einer Metapher geworden: Die Probleme werden immer größer, aber unsere Kultur ist nicht darauf vorbereitet. Mich als Schriftstellerin erschüttert es am meisten, dass gerade wir Menschen der Kultur nicht auf die Zukunft vorbereitet sind.
Harms: Swetlana Alexijewitsch, Sie haben jüngst bei einer Lesung in Berlin gesagt, es sei so traurig, dass aus all dem Leiden in Ihrem Land nie Freiheit entstehen konnte. Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, wenn in einem Teil des Kontinents, in dem schon alle Verheerungen des letzten Jahrhunderts am schlimmsten waren, auch noch die Atomkatastrophe geschieht.
Alexijewitsch: Wenn ein Mensch in einem Lager einsitzt, so wie wir ja gelebt haben, und das Leben grausam ist, woher kann da die Freiheit erwachsen? Aus einem Lager wächst keine Freiheit. Wenn ich mit den Menschen in Weißrussland spreche, wird mir klar, dass sie keine Erfahrung mit einem anderen Leben haben. Nur mit einem Leben des Leidens. Die Weißrussen haben eine Sklavenmentalität. Es ist eine kleine Nation, sie war immer unterdrückt. Und dagegen steht Russland mit seiner imperialen Mentalität. Das Problem des Künstlers von heute ist nicht, dass ich einen Konflikt mit Putin oder Lukaschenko habe, sondern dass ich einen Konflikt mit dem eigenen Volk habe. Gebrauch von der Freiheit können nur freie Menschen machen, aber wo sind sie?
Warum war Putin die Antwort auf Perestroika?
Alexijewitsch: Nach der Perestroika verwandelte sich die Gesellschaft in eine anarchistische Verbrecherbande. Die Gesellschaft atomisierte sich, regiert wurde das Ganze von den Gangstern vor Ort. Erst als Putin die bekannten Losungen wie ein Mantra aussprach – „Großes Russland“ und „Wir sind wieder groß“ –, begann sich das einheitliche Volksgebilde wieder aufzurichten. Denn wie das Leben auf diese Weise funktioniert, wusste man ja.
Waren diejenigen naiv, die dachten, sie könnten eine solidarische Demokratie aufbauen, im Osten Deutschlands und im Osten Europas?
Alexijewitsch: Natürlich. Ich denke, wir, die wir an der Perestroika gearbeitet haben, waren sehr naiv. Es war so eine schöne naive Zeit. Aber: für solche Veränderungen braucht man Zeit. Diese neuen Totalitarismen im postsowjetischen Raum können die Zeit nicht aufhalten.
Harms: Es war erschreckend, wie im Osten der Ukraine über Nacht die überwunden geglaubten Feindbilder wiederkehrten. Wie schnell nationalistisches Denken zu aktivieren war und das Brudervolk der Ukrainer unter Faschismusverdacht gestellt wurde. Und die Idee, dass die eine Nation oder ein Volk besser ist als andere und sich abgrenzen muss, findet heute überall in Europa neue Anhänger.
Alexijewitsch: Das ist wieder der Fall, seit der Kleinbürger in den Vordergrund der Geschichte getreten ist. Deswegen gewinnt diese spießige Denkweise die Oberhand. Sie gründet sich auf Angst und Hass. Die Kultur der Sklaverei lässt sich bei uns nur sehr schwer begraben, das dauert. Weder Russen, Weißrussen oder Ukrainer waren je frei. Ich war vor Kurzem in der Ukraine und war begeistert, wie die Augen der jungen Menschen leuchten. Sie wollen ein anderes Land schaffen. Aber sie müssen gegen die eigenen Eltern ankämpfen, gegen deren starre Vorstellungen von ihrem sklavischen Leben. Der schlimmste Feind der Ukraine ist nicht einmal Russland, obwohl es ein schrecklicher Feind ist. Sondern die alte Ukraine selbst. Wenn die Ukraine im Inneren stark wäre, würde sie auch mit Russland fertig.
Harms: Glauben Sie dass im Westen verstanden wird, was in Osteuropa geschieht? Und versteht der Westen, was im Kreml passiert?
Alexijewitsch: Das verstehen nicht einmal wir selbst. Was hat man sich den Kopf zerbrochen, wo das ganze Geld vom Erdöl abgeblieben ist! Erst im Nachhinein wird klar: Es floss an die Armee und in neue Schiffe, neue Flugzeuge, neue Panzer. Man dachte, die Resultate der Perestroika seien unumkehrbar, doch in Wirklichkeit ist alles sehr wohl umkehrbar. Und der Westen dachte in seiner Überheblichkeit, man hätte gewonnen.
Der Westen tut, als gebe es ein moralisches Gefälle zu den osteuropäischen Ländern. Wie Polen und Tschechien sich flüchtlingspolitisch verhalten, gilt in Deutschland als moralisch minderwertig.
Alexijewitsch: Wenn ich nach Hause komme, höre ich ständig: Warum hat der Westen das nötig? Man muss sich klarmachen, dass der Westen und seine neuen Partner in verschiedenen Zeiten leben. Dort sind Menschen an der Macht, die im Geiste sowjetischer Ideen erzogen wurden. Und die wichtigste Idee war, dass überall nur Feinde sind. Ein Russe kommt viel eher mit jemandem aus dem exsozialistischen Lager klar als der Westen. Und sei es auf Grundlage des gemeinsamen Hasses. Das hat mich schon immer bei den westlichen Menschen gewundert: Dieser Glaube, dass man das Gute in Päckchen irgendwo anliefert und verteilt. Dass man es in die Köpfe schiebt, und das war’s. Nein, so geht es nicht.
Wie sehen Sie Bundeskanzlerin Merkel, Frau Alexijewitsch?
Alexijewitsch: Mir gefällt diese Lektion der Menschlichkeit, die Angela Merkel der Welt zeigt, diese Bewährungsprobe, die die deutsche Nation dank ihrer Willensstärke besteht. Ich weiß, dass Merkel auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Aber ich höre immer wieder, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg neue Menschen aus sich gemacht hätten. Zum Beispiel mein Vater: Er sagt, er dachte, er würde den Deutschen die Untaten niemals verzeihen, die er damals mitansehen musste. Aber nachdem sie das für die Flüchtlinge gemacht hätten, habe er nur noch Hochachtung vor diesen Menschen.
Harms: Was mir auffällt und gefällt, ist, dass eine Frau aus Ostdeutschland an der Spitze Deutschlands versucht, die EU zu mehr Verantwortung für die Veränderungen in Osteuropa zu bringen und als europäische Staaten mehr Verantwortung für Menschen auf der Flucht übernehmen.
Alexijewitsch: Und sie vertritt zwei Welten.
Harms: Das ist gut, denn zwischen diesen Welten gibt es Brüche. Ich bin bis heute froh über das, was sich mit 1989 in Deutschland und der EU verändert hat. Und ich bin überzeugt, dass die Freiheit, die damals erlangt wurde, nicht an der Ostgrenze der EU endet.
Warum ist Merkel kein „Homo sovieticus“, also Teil und Opfer des untergegangenen Sozialismus?
Alexijewitsch: Ach. Der Begriff Homo sovieticus ist ein abwertendes Wort aus der Zeit der Überheblichkeit, als der Westen und Amerika dachten, dass sie die Sowjetunion geschlagen haben. Es ist etwas komplizierter. Für mich sind es vorwiegend tragische Figuren, die in der alten Zeit zurückgeblieben sind. Nur wenige wie Merkel haben es geschafft, das Negative komplett aus sich herauszuquetschen und das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Aber ein europäischer Mensch, also ein Homo europaeus, ist auch nicht der Gipfel der Vollendung.
Harms: Sie schätzen Merkels Flüchtlingspolitik. Halten Sie auch Merkels Politik gegenüber Putin für richtig?
Alexijewitsch: Es ist vernünftig, ihn sich nicht gleich zu einem Feind zu machen. Merkel versucht, Einfluss zu nehmen. Wenn Obama mit Putin spricht, hat man das Gefühl, Obama hat keine Ahnung, mit wem er da zu tun hat. Und wenn Merkel mit ihm spricht, habe ich das Gefühl, sie weiß, was läuft. Ihre Anwesenheit in der Vierer-Gruppe aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine oder in der Gruppe der führenden Wirtschaftsnationen ist sehr wichtig, weil sie die Einzige ist, die über solches Wissen verfügt.
Harms: Ich finde, es ist eine kluge Antwort auf Putin, zu sagen: Wir reagieren auf Krieg nicht mit Krieg. Aber wir setzen alles daran, dass die Reformen in der Ukraine erfolgreich sind. Und gegenüber Putin setzen wir auf Diplomatie und Sanktionen.
Alexijewitsch: Ihr habt eure internen Verwerfungen, aber im postsowjetischen Raum hört man immer wieder die Frage: Und was meint die Merkel dazu? Alle Hoffnungen ruhen nur auf Merkel.
Übersetzung: Alexej Khajretdinov
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