: Albtraum von oben
Israels Angriffe auf den Libanon sind ein Amoklauf, während sunnitische und schiitische Gruppen darum kämpfen, wer der wahre Befreier Palästinas ist. An der Zweistaatenlösung scheint niemand mehr interessiert zu sein. Droht ein Krieg auf ewig?
VON SELIM NASSIB
Vielleicht werden die schrecklichen Zerstörungen, die Israel im Libanon anrichtet, letztendlich so etwas wie eine Rechtfertigung finden – politisch, strategisch, taktisch. Vielleicht werden auch die Angriffe auf Gaza betrachtet werden, als gehorchten sie einer höheren Logik der Realpolitik. Im Augenblick jedoch erscheinen sie der ganzen Welt (nicht nur den arabischen und muslimischen Völkern) als Ausdruck der Wut eines in seiner ganzen Macht erniedrigten Staates, der Amok läuft, weil er ganz unvorbereitet an seiner südlichen und nördlichen Grenze angegriffen wurde, und der sich rächt: mit der extremsten Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, deren Vorräte, Straßen, Brücken, Elektrizitätswerke, Benzinlager – alles, was für das Leben notwendig ist.
Trotz dieses wahnsinnigen Ausbruchs hagelt es weiter Raketen der Hisbollah. Unterstützt von einer erdrückenden Mehrheit seiner Landsleute besitzt Israels Regierungschef Ehud Olmert die Dreistigkeit, sich über die Verbreitung von Bildern ausländischer Fernsehsender aus dem Libanon zu erregen, die „die Aggressoren als die Opfer“ darstellen. Diese Dreistigkeit ist ein Zeichen eines permanenten Blindseins zu einem Zeitpunkt, wo es viel Intelligenz und Klarsicht bräuchte, um eine Chance zu haben, dem Albtraum von oben zu entkommen.
Denn es gibt einen bemerkenswerten internationalen, arabischen und libanesischen Konsens, um die Hisbollah im Südlibanon zu neutralisieren. Die USA und Frankreich haben die Resolution des Sicherheitsrates unterstützt, die die Entwaffnung der Hisbollah fordert. Länder wie Ägypten, Jordanien und besonders Saudi-Arabien nehmen kein Blatt mehr vor den Mund, um das „Abenteurertum“ der Hisbollah anzuprangern. Der Chef der libanesischen Regierung und die Mehrheit der politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Landes (mit Ausnahme der Schiiten) verlangen, dass die Hisbollah-Kämpfer an der Grenze zu Israel durch Soldaten der regulären Armee ersetzt werden. Hinter dieser arabischen Quasieinstimmigkeit wird der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten sichtbar, der gerade dabei ist, die Oberhand zu gewinnen.
Während Gaza im Würgegriff ist und der Libanon zerstört wird, hat der blutige Krieg zwischen den beiden Gemeinschaften im Irak nicht einen einzigen Tag lang aufgehört. In einer mehrheitlich sunnitisch-arabischen Welt hat Saudi-Arabien überhaupt keine Lust, den schiitischen Iran, verstärkt durch Syrien und die Hisbollah, zum Wortführer der heiligen arabischen Causa werden zu sehen: der „Befreiung Palästinas“. Denn darum geht es doch, um diesen Kampf um Einfluss bis zum Tod.
Noch wichtiger ist, dass die palästinensische Hamas selbst Teil dieses Konsenses werden könnte, da sich ihr Weg und ihre Interessen von denen der Hisbollah unterscheiden. Der Unterschied ist nicht nur, dass die einen Sunniten und die anderen Schiiten sind. Die Hisbollah will zeigen, dass eine Bewegung, die vom Islam inspiriert ist, imstande ist, dort zu siegen, wo andere, inspiriert von einem mehr oder weniger laizistischen arabischen Nationalismus, gescheitert sind. Hisbollah hat das bereits im Jahr 2000 bewiesen, als ihre Militäraktion die israelische Armee dazu gezwungen hatte, aus dem Libanon abzuziehen – was ihr eine bemerkenswerte Popularität verschaffte. Doch als dieses Ziel erreicht war, blieb ihr nicht mehr als eine allgemeine ideologische Motivation und die Rolle eines Vorpostens in einem Krieg um Einfluss, dessen Herr der Iran ist, der jeden Tag verspricht, Israel von der Landkarte zu tilgen.
Ganz anders ist die Hamas, die, allen Anzeichen zum Trotz, ein viel konkreteres Ziel verfolgt: einen unabhängigen Staat in Palästina. Der Beweis? In dem Moment, wo der Krieg gegen den Libanon auf dem Höhepunkt ist, teilt die Hamas mit, dass sie bereit sei, mit Israel einen gesonderten Vertrag abzuschließen, der die Freilassung des entführten Gefreiten vorsieht, den Rückzug israelischer Truppen aus Gaza sowie einer darauf folgenden Freilassung der palästinensischen Gefangenen. Diese Initiative bestätigt den historischen Wandel, der vor Ausbruch der Krise stattgefunden hat: die Annahme des „Gefangenendokuments“ [des von inhaftierten Palästinensern aller Fraktionen ausgearbeiteten Kompromissplans, der indirekt die Anerkennung Israels vorsieht; d. Red.] durch die Hamas-Regierung. Dieses Dokument gründet auf einer Resolution, die der arabische Gipfel von Beirut 2002 auf Initiative des saudischen Königs Abdallah verabschiedet hatte. In dieser Resolution (die fast in Vergessenheit geraten ist) hatte die arabische Welt einen globalen und umfassenden Frieden angeboten, verbunden mit der Aufnahme politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen und im Austausch gegen einen Rückzug Israels in die Grenzen von 1967 und die Anerkennung eines palästinensischen Staates.
Dass sich die Islamisten der Hamas, die durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen sind, mit Präsident Mahmoud Abbas, der die alte palästinensische Garde repräsentiert, einigen und sich dem arabischen und internationalen Konsens anschließen, ist von besonderer Wichtigkeit. Doch diese Wendung gefällt natürlich nicht allen. Am Vorabend der Verkündigung des Abkommens begannen ein Teil der palästinensischen Kämpfer (die der Hamas und anderen Organisationen angehören) und der Führer der Hamas, der im Damaszener Exil lebende Chaled Meschaal, mit der Operation, die zur Entführung des Gefreiten Schalit führte und der Feuersbrunst, die dem folgte. Einige Tage später eröffnete die Hisbollah ihre zweite Front im Norden des Landes. Heute würde eine internationale Truppe, die an der Grenze stationiert und der libanesischen Armee den Weg freimachen würde, fast alle erleichtert aufatmen lassen. Doch inzwischen geht die systematische Zerstörung des Libanons weiter und nährt im Herzen der Libanesen einen Hass, dem paradoxerweise die Raketen der Hisbollah Ausdruck verleihen. So schreitet die aktuelle Krise voran auf des Messers Schneide und alles kann jederzeit umkippen.
Sollte das Leidensspektakel mit einem Waffenstillstand enden, würde man merken, dass sich in der arabischen Welt eine wirkliche Spaltung herausgebildet hat – zwischen einer großen Mehrheit, die sich auf einen historischen Kompromiss orientiert, und einer Minderheit, die alles tut, das zu verhindern. Welcher Staatsmann, welche israelischen politischen Kräfte sind es, die diese zerbrechliche Gelegenheit ergreifen könnten? In diesem Land haben die Menschen aufgehört, an einen möglichen Frieden zu glauben, sie wiederholen, dass „die ganze Welt gegen uns ist“, und setzen nur noch auf die harte Gangart. Als ob das Problem gelöst werden könnte, ohne es zu lösen.
Voraussichtlich wird Israel leider ablehnen, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen, obwohl das die Bedingung für eine allgemein anerkannte Vereinbarung wäre. Wahrscheinlich wird es mit Unterstützung der USA die Politik weiterführen, die jede Lösung unmöglich macht: die Fertigstellung der Mauer, die das Westjordanland zweiteilt, die Annektierung von Territorien, auf denen die „Siedlungsblocks“ erbaut sind, die Besetzung des Jordantals. Anders gesagt: Israel als Ghetto, umgeben von zerstückelten palästinensischen Territorien und überwacht von Militärkräften, die regelmäßig zu Strafoperationen fähig sind. Anders gesagt: der Krieg für immer.
Aus dem Französischen von Barbara Oertel
Der libanesische Schriftsteller und Journalist Selim Nassib lebt seit 1969 in Paris. Zuletzt erschien sein Roman über die ägyptische Sängerin Umm Kalsum: „Stern des Orients“, Zürich (Unionsverlag) 1999.