Aktivistin über Proteste in Kolumbien: „Gegen ein ganzes System“

Für den Nationalfeiertag sind in Kolumbien neue Massenproteste angekündigt. Aktivistin Milena Acevedo über Wege zu echter Mitbestimmung.

Menschen mit Schildern bei Protesten.

Wegen Polizeigewalt und sozialer Ungleichheit wird protestiert Foto: Juan B Diaz/reuters

taz: Frau Acevedo, bei der Nationalen Volksversammlung diskutieren derzeit 3.000 Menschen über die Zukunft Kolumbiens. Warum haben Sie die Versammlung mit ins Leben gerufen?

Milena Acevedo: Wir müssen uns organisieren. Seit 28. April gehen in Kolumbien Menschen auf die Straße. Darunter sind viele junge Leute ohne Zugang zu Bildung und Menschen ohne Arbeit. Sie gehören keiner politischen oder sozialen Bewegung an – wollen aber unbedingt das Land verändern. Von dem Nationalen Streikkomitee (das Gespräche mit der Regierung abgebrochen hat und ebenfalls für den 20. Juli zu Protesten aufruft; Anm. d. R.) fühlen sie sich nicht vertreten. Bei der Nationalen Volksversammlung diskutieren wir in Arbeitsgruppen, wie wir das Land verändern wollen. Es geht dabei zum Beispiel um Menschenrechte, Gleichberechtigung, Bildung, Gesundheit, Umwelt, Landrechte.

29 Jahre, ist Mitorganisatorin der Nationalen Volksversammlung, bei der Kolumbianer­*innen über die Zukunft des Landes diskutieren. Sie studiert in Cali Soziologie.

Wie können 3.000 Menschen eine Verhandlungsgrundlage entwickeln?

Uns ist wichtig, alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Das klingt absurd, langatmig und unpraktisch. Aber wir werden nicht erlauben, dass andere Menschen ohne Rücksprache und ohne unsere Mitbestimmung über unser Leben entscheiden. Die Mehrheit muss sich einig sein. Wenn eine Minderheit nicht einverstanden ist, öffnen wir einen Raum, wo sie ihre Gründe erklären können. Daraus bilden wir gemeinsame politische Forderungen, für die wir künftig mobilisieren werden.

Die Regierung kann aber kaum mit 3.000 Menschen verhandeln.

Die Idee ist, dass jede Gruppe Ver­tre­te­r*in­nen schickt – zum Beispiel Indigene, Studierende, Frauen, Bauern, LGBTIQ. Diese Ver­tre­te­r*in­nen sollen immer wieder mit ihren Organisationen und Gemeinschaften Rücksprache halten, sodass die Menschen permanent eingebunden werden. Teilhabende Demokratie endet nicht mit einem Kreuzchen auf dem Wahlzettel. Wir sind ein diverses Land. Afrogemeinschaften haben andere Formen der Teilhabe als Indigene oder Menschen in den Städten. Wir wollen in den Differenzen unsere Gemeinsamkeiten finden und unsere Zukunft in die Hand nehmen.

Streiks und Gewalt Kolumbien kommt seit Monaten nicht zur Ruhe. Vor allem in der Provinzhauptstadt Cali im Südwesten ging die Polizei mit Brutalität gegen Menschen vor, die gegen Ungleichheit demonstrierten. Laut dem Institut Indepaz wurden seit 28. April mindestens 79 Menschen getötet, davon 43 von der Polizei.

Nationalfeiertag Am 20. Juli, dem Nationalfeiertag Kolumbiens, sind neue große Protestmärsche gegen die Regierung von Präsident Iván Duque geplant. Dann endet auch die zweite Nationale Volksversammlung, die seit Samstag in Cali stattfindet. (taz)

Ihr habt kürzlich die Universidad del Valle besetzt. Warum?

Nach der ersten Nationalen Volksversammlung im Juni in der Hauptstadt Bogotá, sollte die zweite in Cali stattfinden. Wir hatten einige Wochen vorher im Rathaus, bei der Regionalregierung und an der Uni wegen Veranstaltungsorten angefragt, wurden aber abgewiesen oder vertröstet. Also haben wir die Uni besetzt. Sie ist öffentlich, hat Platz für die Gemeinschaftsküchen und die Zelte der Teilnehmer*innen.

Und die Leitung hat keine Polizei geschickt?

Nein. Bei der Besetzung im April, kurz vor Beginn der natio­nalen Proteste, hat sie das getan. Das widerspricht aber der universitären Autonomie, denn in öffentliche Unis dürfen Polizei und Armee nicht hinein. Wir forderten deshalb den Rücktritt des Rektors und der Gouverneurin der Region. Das haben wir nicht erreicht, sie entschuldigten sich aber und gaben uns Garantien, dass das nicht wieder passieren wird.

Von der Regionalregierung gibt es dennoch Widerstand.

Die Gouverneurin der Region Valle del Cauca, Clara Luz Roldán, hat per Dekret die Grenzen des Verwaltungsgebiets seit Freitag geschlossen, um die Menschen an der Teilnahme an den Protesten und dem Volkskongress zu hindern. Als wir davon erfuhren, haben wir die ganze Nacht Briefe an Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen geschrieben. Wir gehen auch juristisch dagegen vor, da es gegen das Recht auf Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit und Protest verstößt.

Wie ist die Lage in Cali, wo die Proteste besonders eskalierten?

Alle Blockaden wurden mit Militärgewalt aufgelöst. Die Demos sind vorbei. Aber der Protest geht weiter in Form einer permanenten Versammlung. Jeden Dienstag treffen sich die Leute zum Diskutieren. Und am Nationalfeiertag am Dienstag werden sie wieder auf die Straßen gehen. Auch danach wird es nicht aufhören. Nächstes Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Die Mehrheit der Ko­lum­bia­ne­r*in­nen ist sich einig, dass wir den Uribismus (rechte Bewegung der An­hän­ge­r*in­nen von Expräsident Álvaro Uribe, zu der auch der aktuelle Präsident Iván Duque zählt; Anm. d. R.) abschaffen müssen.

Wie geht es Ihnen in diesen turbulenten Tagen?

Auch wenn das angesichts der Gewalt komisch klingt, bin ich seit dem 28. April glücklich. Erst protestierten die Menschen gegen eine Steuerreform, dann gegen die Regierung und jetzt gegen ein ganzes System. Es ist für mich so schön, all die unterschiedlichen Menschen zu sehen. Bauern aus dem Catatumbo, einer vom Drogenhandel gebeutelten Region, Menschen aus dem Magdalena, wo der Paramilitarismus so stark ist und die Studierendenbewegung zum Schweigen gebracht wurde. Es sind Menschen aus Bogotá nach Cali gereist, die nicht mehr so ein zentralisiertes Land wollen. Wir veranstalten auch eine Kinderversammlung, denn Kinder haben viel zu sagen. Sie werden zum Aufbau des Landes beitragen und die Konsequenzen unserer Entscheidungen erleben.

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