Aktionstage an den Hochschulen: Gegen die verschulte Uni
Die Studierenden wehren sich bundesweit gegen die Verschulung des Studiums, wie sie der Bologna-Prozesses mit Bachelor und Master gebracht hat. Heute ist Aktionstag.
BERLIN taz | Die Idee war zunächst einleuchtend: Durch die Einführung eines Bachelor- und Mastersystems sollten an deutschen und anderen europäischen Universitäten einheitliche Abschlüsse geschaffen werden - an dessen Ende ein europäischer Studienraum stehen sollte. Dreißig Staaten unterzeichneten schließlich in Bologna eine solche Erklärung. Zehn Jahre sind seit Beginn des Prozesses vergangen. Heute gehen die StudentInnen auf die Straße - die Folgen von Bologna sind die Ursachen für die Proteste.
Warum ist es so gekommen? "Man sieht uns nur noch unter ökonomischen Aspekten", klagt der Kommunikationswissenschafts-Student Max Fuhlbrügge von der Freien Universität Berlin, "es herrscht eine totale Ergebnisorientierung an der Universität." Man studiere "nicht mehr, um sich Wissen anzueignen", klagt auch die Streikaktivistin Paula Rauch.
Vor allem die starke Verschulung des Studiums während der Bachelorjahre stört die Studierenden. Statt einer flexiblen Einteilung der Lehrpläne sehen sich viele heute strikten Stundenplänen gegenüber. Verpasst man eines der im Lehrplan vorgesehenen Lehrmodule, "gibt es Riesenstress", wie eine Berliner Studentin klagte.
Der 17. 11. ist Internationaler Studententag. Bundesweit werden Protestaktionen und -kundgebungen in vielen Städten erwartet. Auch das Ausland demonstriert mit. Ein Überblick über die Brennpunkte der Demonstrationen:
Berlin: Der Aktionstag beginnt mit einer Pressekonferenz um 9 Uhr im Hörsaal 1 a der Freien Universität. Ab 11 Uhr wird vor dem Roten Rathaus in Mitte demonstriert. Der Protestzug zieht dann vom Rathaus Unter den Linden entlang, an der Friedrichstraße vorbei und durch die Rudi-Dutschke-Straße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg. Gegen 13 Uhr wird dort die Abschlusskundgebung erwartet.
Wiesbaden: Studierende, SchülerInnen und LehrerInnen aus ganz Hessen ziehen auf die Straßen und streiken gemeinsam.
Tübingen: Um 16 Uhr findet eine Vollversammlung aller Studierenden und SchülerInnen vor der Neuen Aula der Eberhard-Karls-Universität statt.
München: Große Demonstration von der LMU in den Münchner Norden und wieder zurück, begleitet von Reden diverser SchülersprecherInnen und Studierender.
Wien: Die Institute der Wiener Hochschulen treffen sich zu einer Vollversammlung um 13 Uhr. Um 15 Uhr findet eine Kundgebung vor dem Haus der Industriellenvereinigung statt. Außerdem Aktionen wie Unterricht im Freien, vorbereitet von der DozentInnen-Arbeitsgruppe Squatting Teachers.
Auch ermöglichen die festen Lehrpläne viel weniger als früher eine individuelle Zusammenstellung des Studiums. "Die Studierenden brauchen wieder mehr Freiraum, um eigene Schwerpunkte zu setzen", forderte die Grünen-Bildungspolitikerin Priska Hinz gegenüber der taz.
Wegen der engen Stundenpläne, kritisieren die Studierenden, seien während des Bachelorstudiums Auslandssemester kaum noch möglich. Für den Bildungsforscher Dieter Dohmen eine Konsequenz der straffen Pläne: "Wer sechs Monate aussetzt, verliert ein Jahr", sagte der Leiter des Berliner Forschungsinstituts FiBS der taz, "das überlegen sich die Studenten zweimal."
Die Statistik gibt Dohmen recht: Erstmals seit Jahren stagnieren die Zahlen der Austauschstudenten, die ein Erasmus-Stipendium beantragen und ein oder mehrere Semester im Ausland studieren. Der Effekt ist paradox: "Die mit der Bologna-Reform erwünschte internationale Mobilität wurde faktisch verringert", sagt Dohmen, "das Ziel wurde verfehlt."
Ist der Bachelor geschafft, stehen viele Studierende vor dem nächsten Problem: Der Übergang zu einem Masterstudium ist in vielen Fächern nur mit sehr guten Noten machbar. Insbesondere in Geisteswissenschaften und an Großstadt-Unis ist der Zugang zum Master kaum möglich, da die wenigen vorhandenen Plätze nicht für den Ansturm der Studenten reichen.
Lediglich 40 Prozent der Bachelor-StudentInnen würden nach einer Studie des Statistischen Bundesamts auch die Möglichkeit haben, einen Master-Studienplatz zu erhalten, sagt Dohmen, diese Zahl liege "am unteren Rand dessen, was man erwartet hatte".
Zwar gibt es in vielen europäischen Ländern Kritik an dem Prozess. Die zweite Welle der Proteste, die nun durch Deutschland geht, ist jedoch eine Besonderheit. "In Deutschland wurde zu einseitig darauf Wert gelegt, das Studium zu verkürzen", kritisierte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Priska Hinz. Auch der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Peter Strohschneider, hatte diesen Punkt am Wochenende kritisiert.
Insgesamt war in den vergangenen Tagen eine bemerkenswerte Solidarisierung mit den Studierenden zu spüren, die bereits seit vergangener Woche mit der Besetzung von Hörsälen auf sich aufmerksam gemacht haben. Neben Oppositionspolitikern und Vertretern der Wissenschaft stellten sich auch die Gewerkschaften GEW und Ver.di auf die Seite der Besetzer, der Chef der Kultusministerkonferenz Henry Tesch (CDU) sagte, die Forderungen der StudentInnen seien "richtig", und selbst die vielfach kritisierte Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) verlangte eine schnelle Umsetzung von Reformen.
Genug Rückenwind also für die Demonstrationen, die nach Auskunft von Aktivistengruppen in über hundert Städten stattfinden sollen. In Berlin, dem Zentrum der Proteste, werden bis zu 10.000 DemonstrantInnen erwartet. Neben den Bologna-Reformen fordern sie mehr Demokratie in den Universitäten, Geld für Bildung und schließlich einen gebührenfreien Zugang zum Studium.
Trotz der von den StudentInnen kritisierten Fehler im System: Einen internationalisierten Studienraum hat man zehn Jahre nach Bologna erreicht - wenn auch auf eine andere Weise, als gedacht. Denn heute gehen nicht nur die Studierenden in Deutschland auf die Straße. Auch in Wien gibt es Kundgebungen. Es ist so etwas wie Solidarität unter einem Teil von Europas StudentInnen zu spüren. Nicht wegen Bologna. Gegen Bologna.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity