Ai Weiwei bleibt verschwunden: Wer ist der Nächste?
Vom inhaftierten Ai Weiwei fehlt weiter jede Spur. Künstler und Bürgerrechtler fürchten die Wiederkehr der Intellektuellenhatz wie zu Mao Zedongs Zeiten.
PEKING taz | Ai Weiwei bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Bis gestern gab es keinerlei offizielle Informationen darüber, wo der chinesische Künstler festgehalten wird. Mehrere Mitarbeiter und Freunde Ais sind verschwunden – ebenso wie zahlreiche Bürgerrechtler, Künstler und Internetkommentatoren. Sein Rechtsberater Liu Xiaoyuan ist am Dienstag allerdings wiederaufgetaucht. Auch der Bürgerrechtsanwalt Jiang Tianyong, der schon im Februar von Polizisten abgeholt worden war, kehrte nach Hause zurück. Beide wollten mit der Presse nicht darüber sprechen, was mit ihnen geschehen ist.
Chinesische Zeitungen und eine Reihe von nationalistischen Internetforen veröffentlichten mittlerweile Artikel und Kommentare, in denen Ai Weiwei als Außenseiter, der eine "rote Linie überschritten" habe, "Lakai des Westens", "Verräter" der chinesischen Nation und pornografischer Künstler beschimpft wird.
Er habe mit seinen Ausstellungen im Ausland viel Geld verdient, den Tiananmen-Platz mit Fotos von seinem Stinkefinger verunglimpft und sich für eine Fotoserie fast nackt abbilden lassen. Internetkommentare, die Ai verteidigten, wurden von den Zensoren schnell gelöscht. Wer auf der chinesischen Wikipedia-Schwester baike.baidu.com nach Ai Weiwei forschte, konnte jedoch noch neutrale Berichte über einige seiner Kunstwerke und Architekturpläne finden.
Die Familie Ais fürchtet, die Anklage gegen den 53-Jährigen könne drastisch ausfallen. Ais Schwester Gao Ge veröffentlichte gestern in einer australischen Zeitung einen Brief des Künstlers, den er zwei Jahre nach dem Tode Mao Zedongs 1976 geschrieben hatte. Als Kind war er seinem Vater, dem Dichter Ai Qing, in die Verbannung gefolgt, der als sogenannter Rechtsabweichler geächtet wurde.
"Wir mussten all diese Verbrechen ertragen"
"Was sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat", schrieb der Jugendliche, "ist das: das ausgedörrte Land mit dem mageren und schwachen Kind, das schweres Feuerholz trägt, […] das Geräusch zerschmetterter Möbel und der Menschen, die um Gnade flehen […]. Wir waren so jung, aber wir mussten all diese Verbrechen ertragen." Sein Fazit: "Wenn ich sagen kann, dass ich etwas Wertvolles besitze, dann sind es meine Erinnerungen […]. Die bodenlosen Erinnerungen vergifteten unsere jungen Seelen wie Schlangen, aber wir starben nicht daran."
Mit dem Brief, erklärte Gao, wolle sie deutlich machen, dass Ai Weiwei in Gefahr sei, wie sein Vater als "öffentlicher Feind" entlarvt und "unverzeihlicher Sünden" angeklagt zu werden. Damit erinnerte sie an eine Angst, die unter vielen älteren Chinesen, vor allem in der gebildeten Schicht des Landes, bis heute verbreitet ist: dass sich die Rechtlosigkeit jener Zeiten wiederholten könnte, als Mao Zedong die "stinkenden Intellektuellen" – speziell Lehrer, Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller – beschuldigte, seinen Weg zum Sozialismus untergraben zu wollen.
Tatsächlich hat die Regierung die Gangart gegen kritische Bürger verschärft. Gesetze würden nur insoweit gelten, wie es der Regierung passe, machte kürzlich Außenamtssprecherin Jiang Yu deutlich: Für "Störenfriede" könne das "Gesetz nicht als Schutzschild" herhalten. "Kein Gesetz kann sie beschützen," sagte sie. Eine Sendung des BBC, in der die rechtlichen Grundlagen der Festnahme Ais diskutiert wurden, wurde von Zensoren am Dienstag ausgeblendet.
Die Festnahme Ai Weiweis zeige, dass das Klima in China "überhaupt nicht gut ist", kommentierte der Schriftsteller Liao Yiwu ("Fräulein Hallo und der Bauernkaiser") gestern gegenüber der taz. Niemand wisse, "wer als Nächster in dieselbe Situation wie Ai Weiwei gerät".
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