Agrarwissenschaftler Onno Poppinga: Der friesische Sturkopf

Die Studenten der Agrarwissenschaftlichen Fakultät in Witzenhausen trauern. Ende März geht Poppinga in Rente, Vordenker der Ökolandwirtschaft, und mit ihm der Lehrstuhl.

In Witzenhausen ist nicht mehr gut Kirschen essen: Den Lehrstuhl des Agrarwissenschaftlers Poppinga übernimmt jetzt eine Ökonomin. Bild: dpa

Onno Poppinga, 65, schwarze Jeans, weißer Schopf, sitzt in der niedrigen Stube seines Fachwerkhauses und trinkt Tee. Ein zierliches Tässchen mit Blumenmuster hält er in seinen Händen; die Haut seiner Finger ist rissig, die Nägel schmutzig. Bauernhände. "Erst Süddeutschland und dann Hessen", sagt er, "ich bin schon lange in der Fremde." Da lacht seine Frau Marjana, und er auch. Seit über 30 Jahren lebt der Ostfriese nun in Holzhausen im waldigen Mittelgebirge Nordhessens, über 30 Jahre lang hat er an der Uni Kassel als Professor Agrarpolitik erforscht und gelehrt, zuletzt am Fachbereich für Ökologische Agrarwissenschaften in Witzenhausen.

Auf der Eckbank schleichen Katzen über Stapel von Papieren, Briefen, Zeitungen und Zeitschriften und recken ihre Köpfe zu Käse, Wurst und Brötchen auf dem Esstisch hin. "Hört ihr wohl auf zu betteln", sagt Poppinga. Eine Katze angelt sachte mit der Pfote nach einem Stück Salami. Poppinga schüttelt den Kopf. Und führt den Gast nach draußen auf den Hof. Dort stehen die Pferde, die eigenen Trakehner, und Pensionspferde. Früher hat zwischen all den ostpreußischen Warmblütern auch noch eine Kuh gewohnt. "Es gibt nichts Besseres als frisch gemolkene Milch", sagt Poppinga, "außer vielleicht: das Melken selbst." An der warmen Kuh zu lehnen, die Geräusche in ihrem Körper zu hören, das sei schon einmalig, sagt der kleine Herr, und krault sein Reitpferd Ahorn unterm Kinn. 19 Jahre hat der schon auf dem Buckel, ein großer, brauner Wallach. "Wir waren gar nicht füreinander bestimmt", sagt Poppinga, "aber wir haben uns zusammengerauft." Pferde sind Poppingas Leidenschaft. Eine weitere sind Kühe.

Also auf nach Frankenhausen, dem Versuchsbetrieb der Uni Kassel. "Hm, ist ein bisschen matschig hier", sagt Poppinga und stapft schmatzenden Schrittes zu einer großen Holzhalle. Ein breiter Mittelgang, links und rechts stehen, auf Stroh, Rinder. "Das gefällt mir aber gar nicht", sagt der Professor und zupft einer Kuh ein Büschel Fell vom Horn. Offenbar hat sie sich mit einer Kollegin gestritten. "Wenn die Haltung stimmt, sind die ganz friedlich", sagt Poppinga, "dann kann man die Hörner auch dran lassen." Ihm widerstrebe es, an Tieren rumzuschnippeln, wenn es nicht sein müsse. "Vielleicht brauchen sie mehr Platz, oder wir müssen die Gruppen anders zusammensetzen." Schwarz-bunte Niederungsrinder stehen hier im Stall, eine vom Aussterben bedrohte Haustierrasse. "Dabei können die beides", schwärmt Poppinga, "die liefern viel Milch und gutes Fleisch." Er befasst sich im Versuchsbetrieb vor allem mit der Zucht. "Das da ist eine sehr gute Milchkuh", sagt er. Kennt er jedes Rindsviech persönlich? "Natürlich", sagt er staunend.

Kurz lässt ihn die Frage innehalten. Aber nur kurz. Das soll ostfriesische Schweigsamkeit sein? Wer Poppinga folgen will, muss gut aufpassen, denn er redet viel, und er redet schnell, jeder Halbsatz eine These. Das Niederungsrind könne der Rasse der weit verbreiteten und völlig überzüchteten Holstein-Friesen aus der Misere helfen, aber das habe für die Bauern natürlich Konsequenzen, bedeute es doch einen Ausstieg aus der wachstumsorientierten, industriellen Landwirtschaft, die das Land veröde und die Umwelt zerstöre.

Gegen diese Idee von Landleben und Landwirtschaft kämpft Poppinga an, seit Jahrzehnten schon. "Er hat die herrschende Agrarpolitik immer aus einer linken Perspektive heraus kritisiert", sagt der EU-Parlamentarier Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf. Den mag Poppinga, obwohl er bei den Grünen ist. "Parteien sind mir Wurst", sagt er, "mit denen wollte ich nie etwas Näheres zu tun haben."

Gleichwohl schätzt er Mitstreiter, "Ich finde überall einen sympathischen Querkopf", sagt er. Anfang der 70er-Jahre gründete er zusammen mit anderen Bauern aus der Stuttgarter Studentenbewegung heraus einen Arbeitskreis, der sich mit der Dritten Welt auseinandersetzte, aber auch kritisch mit der Rolle des Deutschen Bauernverbandes. Die daraus entstandene Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), deren Vorsitzender Graefe zu Baringdorf heute ist, bildet das Zentrum der "Agraropposition" in Deutschland und formuliert hörbar eine alternative Landwirtschaftspolitik. In ihrem Zentralorgan, der Bauernstimme, schreibt Poppinga noch heute gerne. In die etablierten Zeitschriften der Agrarwissenschaft hingegen hat er es nicht geschafft, auch nicht in die offiziellen Diskurse der Agrarpolitologen. "Da hab ich auf Granit gebissen." Er trenne nicht zwischen Ideologie und Wissenschaft, lautet der Vorwurf der Fachkollegen. "Das kenne ich", schnaubt Weggefährte Graefe zu Baringdorf, "die herrschende Lehre ist Wahrheit und alles andere Meinung."

Die herrschende Lehre. Onno Poppinga zeichnet sie mit einem Daumen in die Luft im Kuhstall. "Hier ist die Nachfragekurve, hier die Angebotskurve", sagt er. So errechne der Agrarökonom den Milchpreis. Unfug sei das. "In Deutschland haben wir hunderttausend Bauern, hundert Molkereien und einen Aldi", sagt er. Die Rechnung funktioniert so also nicht.

Den Weg, den die rebellischen Milchbauern vom Bundesverband Deutscher Milchviehhalter gehen, findet er richtig. Wenn die bloß weiterdenken würden! Die angebotene Milchmenge zu begrenzen, ja klar. Aber immer nur Quoten fordern? Langweilig. Zum Beispiel könnten die Bauern ihre Kälber mit Milch füttern, und nicht mit dem üblichen, milchfreien Milchaustauscher. "Da hätten sie schon mal eine große Menge vom Markt." Oder in der Zucht umdenken. Man könnte in die allgegenwärtigen Holstein-Friesen, die im Schnitt nach viereinhalb Jahren Dauermilchgeben erschöpft an die Schlachtbank treten, das schwarzbunte Niederungsrind einkreuzen. Die geben ordentlich Milch, aber weniger als ihre Hochleistungsverwandten. Auch dies eine Produktionsbegrenzung.

Das richtige Maß - das hat Poppinga auf dem elterlichen Hof kennengelernt. Zusammen mit drei Brüdern wächst er im Dörfchen Upgant bei Norden auf. Der Hof liegt genau auf der Grenze zwischen Geest und Marsch, zwischen dürrem und fruchtbarem Boden. Die Familie ist nicht reich, aber auch nicht arm. "Man kann ihn gar nicht verstehen ohne seine große emotionale Nähe zum Hof", meint sein langjähriger Mitarbeiter Götz Schmidt.

"Quer denken" hätten sie bei ihm gelernt, sagen seine Studierenden. Ein kleines Büro mit einem weiten Blick über den Hang, an den sich die Uni Witzenhausen würfelt. Über allen Instituten und Gewächshäusern thront "meine Villa Hügel", stellt Poppinga vor. Ein kleiner zweckmäßiger Bungalow mit Linoleumboden, Stundenplänen an den Wänden und Kurt-Tucholsky-Sprüchen an den Türen: Hier lehrt und forscht das "Fachgebiet Landnutzung und regionale Agrarpolitik" unter seiner Leitung. Noch bis Ende März, dann geht Poppinga in Rente. Und seine Stelle mit ihm.

Darum sitzen jetzt, an einem kalten Februarnachmittag, die Studentinnen Maggi Selle und Marlin Krieger um einen Teller Donauwellen herum und sind auf einmal ganz verzagt. "Jetzt wird erst so richtig greifbar, was mit ihm verloren geht", sagt Maggi. 24 Jahre alt, 5. Semester Agrarwissenschaften. Seit über einem halben Jahr organisiert sie den Studierendenprotest gegen den Wegfall von Poppingas Stelle. Zwar wird es weiter eine Professur für Agrarpolitik geben, aber sie ist besetzt von einer Ökonomin. "Das ist an allen Unis so", kritisiert Marlin. Im Streit um Onno Poppinga kristallisiert sich die Krise einer Agrarwissenschaft, die den Bauern gepredigt hat, sie seien Unternehmer. Und die sich nun fragen lassen muss, wieso die Branche eine eigene theoretische Betrachtung verdient.

"Agrarpolitik in der Leehre?" ist die von Studierenden organisierte Ringvorlesung im auslaufenden Semester überschrieben. Sie war auch als Abschiedsgeschenk für ihren Lehrer gedacht, dessen Forschung immer fest im Ackerboden verwurzelt war. Wie und zu welchen Preisen können Ganztagsschulen ihr Schulessen aus regionalem Bioangebot decken?", erkundete Poppinga etwa in einem seiner letzten Forschungsprojekte. Davor interessierte ihn die Funktion von Pferden in der modernen Landwirtschaft. "Der Breitensport Reiten holt die Städter wieder aufs Land", sagt er, "das ist wichtig." Abgesehen davon, dass er den Bauern eine neue Einkommensquelle eröffne. Noch eine These.

Kürzlich sei er nach einem Referat in einem seiner Seminare sofort aufgesprungen und habe es lautstark kommentiert, erzählt Maggi Selle. "He, wir wollten doch erst Verständnisfragen stellen", hätten sie gerufen, "aber keine Chance, in so einem Moment, da geht er ab." Sie räumt Kuchenteller und Teetassen zusammen. Gleich findet die letzte Veranstaltung der Ringvorlesung statt. Auf einer Podiumsdiskussion wollen Studenten und Mitarbeiter des Fachbereichs klären, wie es weitergeht mit der Agrarpolitik in Witzenhausen.

Da ist Onno Poppinga schon wieder auf dem Weg zu seinem Fachwerkhaus, Pferde füttern. Seine Studenten würden das auch ohne ihn hinbekommen, sagt er. Die seien nämlich großartig: selbstbewusst, eigensinnig und gut organisiert.

"Ostfriesland - Biografien aus dem Widerstand" heißt eines seiner Bücher. Er hat es den sturköpfigen Kleinbauern seiner Heimat gewidmet. "Ihr Widerstandsgeist und ihre Solidarität", sagt er, "die haben mich schon immer fasziniert."

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