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Aggression und Migration"Beißen und treten"

Viele Intensivtäter fallen schon in der Kindheit durch große Aggressivität auf, sagt der Psychologe Haci-Halil Uslucan.

taz: Herr Uslucan, die Mehrzahl der Intensivtäter, die bei der Staatsanwaltschaft registriert sind, haben einen Migrationshintergrund. Welchen Anteil haben die Eltern daran?

HACI-HALIL USLUCAN, 1965 in der Türkei geboren, ist Privatdozent für Psychologie an der Uni Potsdam.

Haci-Halil Uslucan: Natürlich haben die Eltern an dieser Entwicklung Anteil. Aber nur sie verantwortlich zu machen, wäre zu einfach. Es gibt unzählige Faktoren, die bewirken, dass ein Mensch zum Gewalttäter wird.

Sprechen wir trotzdem über die Eltern. Was liegt in der Erziehung im Argen?

Eines der Probleme im erzieherischen Bereich ist ein Erziehungsstil, der aus Sicht des Kindes unberechenbar ist: Wenn man ein Kind für dieselben Dinge heute lobt und morgen bestraft. Heute hüh und morgen hott - das passiert nicht nur in türkischen Elternhäusern, das machen auch deutsche Eltern. Dieser Stil wirkt sich am stärksten darauf aus, dass ein Kind später gewalttätig wird. Eine strenge Erziehung im Sinne von harten, klaren Regeln kann dem Kind dagegen eine Struktur geben. Das heißt nicht, dass ich das favorisiere.

Hat es bei den Intensivtätern schon in der Kindheit Alarmzeichen gegeben?

Viele Intensivtäter sind schon im Kindergarten oder der Grundschule durch eine besondere Aggressivität, wie beißen, treten und schlagen, aufgefallen. Dass sich Kinder raufen, ist normal. Was ich meine, sind die sogenannten Frühstarter. Sie entwickeln ein antisoziales Verhalten, das sie früh zum Außenseiter macht. Zum Teil haben sie auch neuropsychologische Defizite.

Wie drückt sich das aus?

Zum Bespiel in Hyperaktivität. Bei Kindern mit Migrationshintergrund werden solche Aspekte oft verkannt. Die Auffälligkeit wird auf die Kultur geschoben: Arabische und türkische Jungs seien temperamentvoller. Eltern, Erzieher und Lehrer müssen genauer über diese Gruppe Bescheid wissen. Je früher man einen Frühstarter erkennt, umso eher kann man intervenieren.

Wie kann man die Eltern erreichen, die meistens aus sogenannten bildungsfernen Schichten kommen?

Das geht nicht mit Verordnen, in dem Sinne: Ihr Migrantenfamilien erzieht eure Kinder falsch. In so einem Fall sperren sich die Eltern und halten erst recht an ihren Erziehungsvorstellungen fest. Meine Erfahrung ist, dass man an die Familien sehr gut herankommt, wenn man sie in einen Diskussionsprozess einbindet: Ist es gut, wenn ein Kind mit Gewalt erzogen wird? Wie war es für Sie, als Sie mit Schlägen erzogen worden sind?

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Neulich habe ich in Braunschweig einen Vortrag über Gewalt und Erziehung gehalten. Im Publikum waren sehr viel arabische und türkische Mütter. Hinterher haben sie mich gefragt, ob ich das auf Türkisch wiederholen könnte. Das habe ich getan. Danach wurde ich mit Fragen bestürmt: Ob ich auch therapeutisch tätig sei? Ob ich noch etwas zu diesem und jenem Problem sagen könne? Die Mütter erkennen, dass ihre Kinder schwierig sind, aber sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Von der deutschen Seite werden sie als böse, schlagende Eltern wahrgenommen. Dabei wollen sie für ihre Kinder nur das Beste.

Wie lautet Ihr Fazit?

Verstehen ist die Voraussetzung, um in einen Dialog zu kommen. Der ist nur mit Hilfe der Migrantenorganisationen und Moscheenvereine herzustellen. Aber auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss bei ihrer Verantwortung gepackt werden. Und es müssen qualifizierte Programme aufgelegt werden.

Gilt das auch für Palästinenser und Libanesen?

Die Palästinenser und Libanesen sind ein Problem für sich. Viele sind durch Kriegserfahrungen in der eigenen Familie traumatisiert, haben ungünstige Bleibeperspektiven. Mit den gewöhnlichen Ansätzen der Migrationshilfe und mit softpädagogischen Programmen wird man da kaum weiterkommen.

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